Segessers Berner Habilitation ist eine ideengeschichtliche Studie, die mit der Ahndung von Kriegsverbrechen einen strafrechtlichen Ausschnitt der Völkerrechtsgeschichte betrachtet. Die Ideengeschichte ist dabei angemessen eng mit der politischen Geschichte der zeitgenössischen internationalen Beziehungen verzahnt. Dies ist wichtig für ein Feld, auf dem eine besonders starke Politisierung des Rechts zu beobachten ist. Die Wünsche der Völkerrechtler nach Normsetzung, Normvermittlung und Normimplementation werden regelmäßig von außen- und auch innenpolitischen Interessen überformt und vielfach gebremst, manchmal aber auch befeuert.
Die Studie setzt zeitlich im Jahr 1872 an, als der Schweizer Völkerrechtler und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Gustave Moynier einen zehnseitigen Zeitschriftenartikel publizierte. Dort regte er die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs an, der Verstöße gegen die Genfer Konvention ahnden sollte. Moynier ist eine besonders prominente Stimme in einem Kreis von Völkerrechtlern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aus dem immer wieder Anläufe für die Ahndung von Kriegsverbrechen kommen. Den Begriff "Kriegsverbrechen" hatte Johann Caspar Bluntschli als erster benutzt "als zusammenfassende Kategorie für einen Teil der während eines Krieges begangenen Vergehen und Verbrechen" (50), auch das 1872. Ihm folgte 1906 Lassa Oppenheim, der zur Definition der Kriegsverbrechen in seinem Lehrbuch eine Typologie entwarf (51). Den Hintergrund bilden Kriegserfahrungen, die nun vor der Fortschrittsgeschichte einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen offenbar nicht mehr einfach hingenommen werden sollten. Mit dem Lieber Code, der Genfer Konvention, den Haager Konferenzen etc. waren wichtige Schritte hin zu einer Normierung des Ius in Bello, der Humanisierung des Kriegsrechts und zur Justizialisierung von Konflikten unternommen worden. Der Gegenpol liegt und lag auf der Betonung der staatlichen Souveränität, die als Hindernis für eine internationale Bestrafung gesehen wird. Mit Moynier begann ein Prozess, bei dem wissenschaftliche und politische Interessen pluraler Akteure um Wünschbarkeit und Machbarkeit stritten. Die Diskurs- und Ideengeschichte ist lang, aber zunächst folgenlos. Auf der Ebene internationaler Institutionen fand vor Nürnberg keine Vergerichtlichung statt.
Die praktische Erfahrung der Leipziger Kriegsverbrecher-Prozesse nach dem Ersten Weltkrieg in Form der "Verliererjustiz" (Harald Wiggenhorn) illustrierte die Schwierigkeiten nationaler rechtsförmiger Aufarbeitung dieser Form des Unrechts. Dennoch musste die Internationalisierung als alternative Handlungsmöglichkeit große Schwierigkeiten überwinden. Sogar Berichte über schwerste Rechtsverletzungen wie die an den Juden begangenen Verbrechen lösten in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs bei den Alliierten nicht die habituelle Zurückhaltung gegenüber einer juristischen Ahndung (326, 332, 391). Selbst bei zahlreichen Juristen vernahm man zunächst ein lautes und irritierendes Schweigen. Dass sich 1945 der Wunsch nach rechtsförmiger Aufarbeitung durch einen internationalen Gerichtshof durchsetzte, war demnach keine Selbstverständlichkeit und entsprang einer besonderen Konstellation, in der viele glückliche Umstände zusammentrafen - nicht zuletzt auch die umsichtige Bereitung des Felds durch die Wissenschaft, die Teilen der Politik entscheidende Argumente für die Justizialisierung an die Hand gab. Für Segesser bleibt Moyniers Intervention maßgeblicher Referenzpunkt bis an das Ende seiner Studie, wo er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob Moynier und seine Zeitgenossen die Nürnberger Prozesse (394ff.) und den Gerichtshof von Den Haag (399ff.) wohl als Erfüllung ihrer wissenschaftlichen Visionen angesehen hätten. Eine Zusammenfassung fehlt.
Der Aufbau der Studie ist historisch, die Zäsuren verdeutlichen das Wechselspiel der multiplen Faktoren, die für die Debatte maßgeblich waren, und diese bestimmen wiederum die Gliederung der Arbeit: Es sind Kriege, prominent gewordene tatsächliche oder behauptete Kriegsverbrechen, öffentliche Diskussionen, Institutionen, einzelne Wissenschaftlerpersönlichkeiten und ihre Vorschläge, Vertragswerke, beauftragte Kommissionen, diplomatische Akte und die ersten institutionellen Anläufe einer gerichtlichen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Als Quellenbasis werden überwiegend zeitgenössische Zeitschriftenartikel herangezogen; das ist nicht schlecht begründet (34-48). Denn die völkerrechtliche Publizistik entfaltete sich auf diesem Feld besonders in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, und die Zeitschriften waren meist bessere Foren für die Interventionen, Zwischenrufe und Stellungnahmen zu Kriegsverbrechen als Hand- und Lehrbücher des Völkerrechts oder Rechtsenzyklopädien, die eher einen bereits erreichten Stand der Rechtswissenschaft abbildeten. Das Literaturverzeichnis ist in Bezug auf die benutzte Literatur nicht zuverlässig, manche Quellen erscheinen nur in den Fußnoten (Friedmann 308, Anm. 26; Liszt S.283, Anm. 283). Wo Segesser Lehrbücher benutzt, scheint er zumindest teilweise die Auflagen verglichen zu haben, Funde wie ein Zusatz Franz von Liszts aus dem Jahr 1915 zum Umgang mit behaupteten Verstößen gegen das Seekriegsrecht (187, Anm. 248) sind der verdiente Lohn.
In diesem langen Durchgang erfährt man viel über die Kriegsverbrechen im amerikanischen Bürgerkrieg, im Deutsch-Französischen Krieg und zahlreichen weiteren militärischen Auseinandersetzungen in rund sieben Jahrzehnten. Es ist eine hauptsächlich europäische Geschichte, die sich in den Debatten widerspiegelt. Die Gräueltaten, die in Asien und Afrika begangen wurden, gerieten vielfach nicht in den Fokus der europäisch-amerikanischen Juristen. So bei den Ereignissen im Burenkrieg, beim Herero- und Boxeraufstand, der US-amerikanischen Niederschlagung des Philippinen-Aufstands 1899-1902. Sie und auch der Völkermord an den Armeniern wurden zumeist beschwiegen oder gerieten bald in Vergessenheit. Die Verstöße außerhalb der Gemeinschaft der "zivilisierten Völkerrechtsgemeinschaft" zogen nicht in gleichem Maße den Wunsch nach Ahndung nach sich.
Segessers Interesse liegt primär auf der wissenschaftlichen Debatte, die er mit großer Gründlichkeit und Vorsicht abbildet. Die Zahl und Bandbreite der Völkerrechtler, Wissenschafter, Diplomaten und Politiker, die zu Wort kommen, ist beeindruckend. Zahlreiche Quellenzitate verschaffen dem Leser unmittelbare Eindrücke und belegen die Vielfalt der Positionen, letztendlich aber vor allem die rechtspolitische Vorsicht, die bei der Entwicklung des Rechtsgebiets waltete.
Die Anlage der Arbeit ist demnach eng entlang der Quellen geführt, der Leser wird kleinteilig über den Diskurs informiert. Das ist legitim und hat seine Stärken, wird aber dort zum Nachteil, wo sich der Autor in Analyse und Wertungen zurückhält. Eine These hat das Buch nicht, auch die Abschnitte beabsichtigen keine punktuelle Beweisführung oder werfen theoretisierende Fragen auf. Schon die Überschriften signalisieren den deskriptiven Charakter der folgenden Ausführungen. Als Beispiel seien die Seiten 177-203 genannt. Die Überschrift dieses Abschnitts lautet "Die weitere Debatte über die Ahndung von Kriegsverbrechen 1915-1918". In der Folge werden dann nach einer kurzen Einleitung und Übersicht über die Kriegsereignisse (177-180) ausführliche Inhaltsreferate gegeben. Als Leser vermisst man pointierte Aussagen, Kommentierungen und oft auch die bloße Straffung dieser Quellenwiedergaben. Noch dankbarer wäre man aber für Analysen gewesen, in denen die Stimme des Autors zu vernehmen gewesen wäre, bei denen er dem Leser mitteilt, was diese oder jene Stellungnahme aus seiner Sicht bedeutet, wie sie in größere Kontexte einzuordnen ist. Größere Linien oder Leitmotive sind zudem schwer aufzufinden als das Buch zwar über ein ausführliches Register verfügt (457-472), bei der Anlage und Zuordnung zumal der Sacheinträge aber zu wenig nachgedacht wurde. Glaubt man dem Register, geht es nur auf Seite 171 um "Wissenschaftler". Stichworte wie "Presse" oder "Öffentlichkeit" fehlen ganz, obwohl jenen Schlüsselrollen zukamen.
Für eine solche Einordnung wären Analyseinstrumente erforderlich gewesen und der Wille, jenseits der Debatte um Kriegsverbrechen die größeren Kontexte der völkerrechtsgeschichtlichen Entwicklungen zu berücksichtigen. So wird zwar viel mit der Forschungsliteratur gearbeitet und intensiv rezipiert, dabei manche Einschätzung oder Tatsachenbehauptung korrigiert (128), aber eher nur im Detail statt in großen Linien. Auch die im Titel "Recht statt Rache oder Rache durch Recht?" aufscheinende Alternative wäre eine solche Möglichkeit gewesen, sich einer Leitfrage zu verschreiben. Doch die Idee wird nicht systematisch verfolgt, eine Berücksichtung und Analyse der Strafzwecke, die mit der Ahndung von Kriegsverbrechen verbunden werden, erfolgt nicht. Stattdessen wird vielfach im Buch vom "liberalen Prinzip der Rechtsstaatlichkeit" (33, Anm.77, zwei Mal) gesprochen und das potenzielle Spannungsverhältnis zu einer Justizialisierung und dem Wunsch nach Rache angerissen (142). Leider bleibt dieses "liberale Prinzip der Rechtsstaatlichkeit" inhaltlich vage, es wird als Etikett verwendet (34, 267), aber nicht historisiert, vertieft oder problematisiert. Das gleiche geschieht mit der vielfach wiederkehrenden Bezeichnung "bürgerlich" / "liberal" (20, 32, 35, 103, 133 und öfter). Auch hätte man nachdenken können, inwieweit die Ahndung von Kriegsverbrechen Ausdruck der zunehmenden Kooperation der Staaten ist; solche Völkerrechtstheorie wird aber vom Verfasser nicht herangezogen. Das Wort "Kooperation" fällt zwar gelegentlich (21, 295), aber nur im Rahmen der Inhaltsreferate.
Schließlich noch eine Kritik des Vorworts: Dass es für das Wort "Dank" keine Synonyme gibt, ist unter Buchautoren allgemein bekannt und wird bedauert. Segessers Danksagung scheint doch aber auszuufern: Auf den Seiten 11-14 kommt das Wort zwar nur 19 Mal in seinen verschiedenen Varianten vor, aber es sind insgesamt 110 Personen, denen er sich zu Dank verpflichtet fühlt und die er namentlich aufführt. Die Ausweitung der Umfänge von Qualifikationsschriften (und damit des Rechercheaufwands zumal historischer Studien), die gestiegene Internationalisierung und Mobilität ihrer Autoren mag die Zahl der wissenschaftlichen Kontakte steigen lassen. Eine Straffung, Selektion und Pointierung hätte dem Buch aber auch hier gut getan. So beschränkt sich Segessers Verdienst auf Sammlung, Durchsicht und Referat eines Diskurses, den er mit großem Fleiß und Sorgfalt vorrangig abbildet.
Daniel Marc Segesser: Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte 1872-1945 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 38), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 472 S., ISBN 978-3-506-76399-0, EUR 60,00
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