Zeitgeschichtliche Forschungen zu den sozialistischen Diktaturen in Ost- und Ostmitteleuropa vor 1989 sind en vogue, begünstigt durch die Verfügbarkeit von Akten in den Archiven der betroffenen Länder. Nicht zuletzt die freigegebenen Aufzeichnungen der kommunistischen Geheimdienste sind dabei in den letzten Jahren in das Fadenkreuz des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Einen anderen Zugang wählt Markéta Špiritová in ihrer Münchner volkskundlichen Dissertation zum Alltagsleben intellektueller Dissidenten in der Tschechoslowakei zwischen 1968 und 1989. Auf der Grundlage von lebensgeschichtlichen Interviews mit Männern und Frauen des tschechischen Dissidentenmilieus, ergänzenden Zeitzeugenberichten in tschechischen Institutionen und literarischen Erinnerungen steht für sie nicht der staatliche Repressionsapparat oder der voyeuristische Blick der Geheimdienste im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Frage, wie die Betroffenen sich in der für sie schwierigen Situation eines stark reglementierten und bedrohten Lebens im Alltag einrichteten.
Die Autorin nähert sich ihrem Thema mit einem angemessenen Verhältnis von menschlicher Nähe und wissenschaftlicher Reflexion und Distanz. Im Ergebnis gelangt sie zu tiefen Einblicken in die Lebensrealität der Betroffenen, die sie gut nachvollziehbar und zugleich spannend zu präsentieren weiß. Ungeachtet individueller Unterschiede, die sich auch aus dem Lebensalter oder der Gender-Zugehörigkeit ergeben konnten, arbeitet die Verfasserin aus den Zeitzeugengesprächen kollektive Muster heraus. Nach der sowjetischen Invasion in die ČSSR und der beginnenden "Normalisierung" wurden in der subjektiven Wahrnehmung intellektueller Gegner des Regimes die ersten fünf Jahre bis 1973 als die schwersten empfunden. Viele in geistigen Berufen tätige Menschen fühlten sich in jenen Jahren geradezu paralysiert. Resistentes Verhalten wurde streng verfolgt, was viele Intellektuellen zu einem defensiven Handeln veranlasste, um die eigene Existenz und die ihrer Angehörigen nicht zu gefährden. Nach dem Abschluss der ersten "Normalisierungs"-Phase trat um 1973 ein Zustand ein, in dem sich viele Betroffene mit ihrer Zuweisung in anspruchslosere Berufe abfanden, um sich daneben Freiräume für geistiges Agieren zu erhalten. Doch hielt diese Periode des Sich-Einrichtens nicht lange an, denn schon mit der Charta 77 erfolgte eine neue biografische Weichenstellung: Die Option, mit der Unterstützung der Charta 77 öffentlich Gegnerschaft zur Politik des Regimes zu manifestieren, zog für viele der "Chartisten" erneut harte Repressionen nach sich, bewirkte andererseits aber eine starke geistige Kohäsion der an und für sich heterogenen Gruppe. Ein Wandel der Lage zeichnete sich erst in den späten 1980er Jahren ab, als für die Betroffenen die Krise des Regimes unübersehbar wurde. Ausblickend geht die Studie auch auf die Rehabilitierung vieler Dissidenten nach dem politischen Umbruch von 1989/90 ein.
Als gemeinsame Strategie der Alltagsbewältigung der untersuchten Personengruppe ermittelt die Špiritová das Festhalten an der "unabhängigen Kultur". Dies lässt den Rezensenten die Frage aufwerfen, ob man nicht in einer Perspektive der longue durée in dieser spezifischen Reaktion der geistigen Resistenz eine Art Kontinuum der tschechischen Geschichte erblicken könnte? Auch in anderen Phasen der Unterdrückung wurde in den Böhmischen Ländern diese Form mit Erfolg praktiziert und damit der Fortbestand der "kleinen Nation" gesichert.
Verdientermaßen ist Špiritovás Monografie mit dem angesehenen Georg R. Schroubek-Dissertationspreis ausgezeichnet worden. Sie ist das Werk einer Autorin, die wie nur wenige Wissenschaftler/innen im tschechischen und im deutschen Diskurs gleichermaßen beheimatet ist. Man darf daher auf künftige Arbeiten aus ihrer Feder schon heute gespannt sein.
Marketa Špiritová: Hexenjagd in der Tschechoslowakei. Intellektuelle zwischen Prager Frühling und dem Ende des Kommunismus, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 385 S., ISBN 978-3-412-20437-2, EUR 44,90
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