Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen drei auf zahlreichen Tempelreliefs dargestellte, eng mit der Theologie der Kindgötter verbundene Kultobjekte der Hathor, nämlich die Darstellung eines in einem Tempel sitzenden Kindes ("Kind im Tempel") sowie das sogenannte Kryptogramm und das Bechenet-Gebäude oder (den Ausführungen der Autorin folgendend) besser Bechenet-Tor. Anhand dieser drei Kultobjekte versucht Dagmar Budde "die Motivationen und Mechanismen zu erforschen, die in Ägypten zur Etablierung der Kindgottverehrung geführt haben" (6).
Dazu übersetzt und kommentiert sie im ersten Teil diejenigen Ritualszenen aus den Tempeln von Edfu und Dendera, die zeitlich in die späte Ptolemäerzeit seit Ptolemaios VIII., v.a. aber in die römische Kaiserzeit bis Domitian datieren und in denen eines oder mehrere dieser drei Objekte (sei es im Bild oder als dargebrachte Opfergabe) vorkommen. Hinzu kommen fünf Textpassagen in diesen Tempeln, in denen die Objekte behandelt werden.
Der Kommentar, der sowohl die Texte als auch die Darstellung gemeinsam in den Blick nimmt, ist überaus ausführlich und zeigt die breite Textkenntnis der Autorin. Die Einbeziehung zahlreicher Parallelen der vorgenannten wie auch weiterer Tempel ermöglicht nicht nur eine vertiefte inhaltliche Analyse der Textpassagen, sondern bietet auch neue Übersetzungsvarianten. Die Anordnung der Texte erfolgt chronologisch, um die Entwicklung der drei Kultobjekte zu verdeutlichen. Ihre Positionierung innerhalb der Tempel wird durch die Pläne im Anhang anschaulich verdeutlicht.
Budde belässt es jedoch nicht bei einem bloßen philologisch-inhaltlichen Kommentar. Soweit die Texte dazu Anlass bieten, widmet sie sich insbesondere theologischen und historischen Fragestellungen (z.B. theologische und mythologische Hintergründe [u.a. Dok. 8, 10], Verbreitung der Isiskulte [Dok. 17], Aspekte der persönlichen Frömmigkeit, Orakelwesen [zu beidem vgl. Dok. 5 und 6], Funktion der Kindgötter [u.a. Dok. 19], Rolle der Königin [Dok. 5 und 6], Einfluss der Fremdherrschaft, römerzeitliche Religionspolitik in Ägypten [Dok. 17, 18 und 24]), aber der Funktion sakraler Räume (hier des Pronaos, Dok. 19). Interessant ist dabei insbesondere auch der Versuch, einzelne Szenen in den historischen Kontext einzuordnen und zu bewerten.
So kommt sie beispielsweise - auch durchaus konträr zu anderen Stimmen in der Forschung [1] - hinsichtlich der allseits bekannten und häufig zitierten Darstellungen auf der Rückwand des Hathortempels von Dendera, die Caesarion und Kleopatra VII. beim Opfer vor verschiedenen Göttern zeigen (Dok. 6, v.a. 77ff.), zu dem Schluss, dass "die teils raffiniert verklausulierte und politisch bedeutsame Intention der Szene" darin gelegen habe, Caesarion wie das Horuskind als legitimen und machtvollen Pharao Ägyptens zu repräsentieren, "der gleichermaßen das Erbe des römischen Weltreiches antreten konnte". Die Königin habe dabei "die in der Figur der Isis verankerte Rolle als Königsmacherin" übernommen und ihr als Nea Isis neue Konturen verliehen; eine explizite Identifikation mit der Göttin lasse sich allerdings nicht belegen. Es habe das dynastische Streben Kleopatras im Vordergrund gestanden. (84f.)
Was die römische Religionspolitik in Ägypten angeht, legt Budde überzeugend dar, dass sich in römischer Zeit in den Texten eine verstärkte Assimilation des römischen Pharaos an die Kindgötter feststellen lasse. Sie vermutet, dass die Kindgötter den römischen Fremdherrschern immer mehr als Identifikationsfiguren dienten, um dadurch die Kontinuität der legitimen Herrschaft unabhängig von der Herkunft des Regenten zu demonstrieren und die fehlende Legitimation durch Erbfolge durch den Bezug auf den Mythos auszugleichen (172, 237f.). Dabei sei der Isis-Tempel in Dendera, der ein Geburtstempel der Göttin war, von besonderer Bedeutung für die Religionspolitik des Augustus gewesen. Er symbolisiere, vergleichbar der Ara Pacis in Rom, "gleichzeitig die Friedenspolitik des Augustus und den Beginn einer neuen Epoche auf ägyptischem Boden" (170). Erkennbar seien somit altägyptische und hellenistisch-römische Herrschaftsideologien miteinander verknüpft worden. Dies werde auch in den Inschriften aus der Zeit Neros deutlich, der als Agathosdaimon [2] und "Herrscher des Sonnenkreises" dargestellt werde (vgl. 254f., 269).
Im Anschluss erfolgt im zweiten Teil eine hierauf aufbauende detaillierte Analyse der drei Kultobjekte, die nicht bei einer Diskussion zur jeweiligen Lesung der Objekte stehenbleibt, sondern zudem versucht, die verschiedenen Ebenen der Symbolik dieser Objekte zu entschlüsseln. Es handelt sich innerhalb der zehn Kultobjekte der Hathor um eine Untergruppe, die die Entstehung und Erneuerung des Lebens verkörpert. Dabei geht die Autorin über die bisherigen Ansätze zum Verständnis der einzelnen Kultobjekte hinaus bzw. deutet sie zum Teil neu. So interpretiert sie überzeugend das Bechenet-Gebäude als die Stätte, an der sich die Geburt oder Erneuerung vollzogen und die triumphale Erscheinung stattgefunden habe. Das "Kind im Tempel" repräsentiere das Geburtshaus, das allgemein als Ort der zyklischen (Herrschafts-)Erneuerung zu verstehen sei. Das sogenannte Kryptogramm wiederum symbolisiere die Genese des Götterkindes in einem umschützten Raum. Dieses Götterkind werde als Heilsbringer verstanden, das den Fortbestand Ägyptens und der Welt sichere. Die Übergabe dieser Objekte an die Göttin gewährleiste damit die Inganghaltung der kosmischen Kontinuität. (407)
Überaus gewinnbringend für die Analyse ist dabei, dass Budde verschiedentlich neben früheren Textzeugnissen wie Pyramiden- und Sargtexten sowie griechischen und lateinischen Quellen auch andere Quellengattungen (Objekte des privaten Funerärkultes [so z.B. auch Leichentücher], Plastik, Terrakotten) mit einbezieht. Hierbei wird erkennbar, dass Elemente des privaten Totenkultes Eingang in die Tempeldekoration fanden und vice versa (299ff.), insbesondere die Motive des Bechenet-Gebäudes und des "Kindes im Tempel" wurden in der Funerärkunst adaptiert. Aufgrund dieser Beobachtungen spricht sie sich überzeugend gegen die von Assmann [3] vertretene These einer zunehmenden Abschottung der Tempel nach außen in der griechisch-römischen Zeit aus.
Als Ergebnis ihrer Auswertung führt Budde das Erstarken der Kindgottverehrung auf ihre Funktion als Identifikations- wie auch als Heilsfigur in den Krisenzeiten der späten Ptolemäer- und Römerzeit zurück. Dabei habe sich allerdings die Heilserwartung im Laufe der Zeit auf die Gottesmutter Isis als Weltenherrscherin verlagert. (410)
Der Autorin gelingt es, in der Analyse überwiegend schon lange bekannter Dokumente unter Einbeziehung ihres historischen Umfeldes mögliche Ursachen für ein verstärktes Aufkommen der Verehrung von Kindgöttern aufzuzeigen. Gleichzeitig wirft sie ein Schlaglicht auf die Religionspolitik der Tempel und der (Fremd-)Herrscher wie auch auf Elemente des Privatkultes im Ägypten der späten Ptolemäerzeit und unter römischer Herrschaft. Insgesamt handelt es sich um ein überaus gelungenes Werk, das nicht nur für Ägyptologen äußerst gewinnbringend ist, sondern auch Vertreter der anderen Altertumswissenschaften zu neuen Überlegungen anregen dürfte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise W. Schuller: Kleopatra. Königin in den drei Kulturen, Hamburg 2006, 43ff.
[2] Hierzu zuletzt St. Pfeiffer: Der römische Kaiser und das Land am Nil, Stuttgart 2010, 97f.
[3] Vgl. z.B. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 179f.
Dagmar Budde: Das Götterkind im Tempel, in der Stadt und im Weltgebäude. Eine Studie zu drei Kultobjekten der Hathor von Dendera und zur Theologie der Kindgötter im griechisch-römischen Ägypten (= Münchner Ägyptologische Studien; Bd. 55), Mainz: Philipp von Zabern 2011, 474 S., 15 s/w-Tafeln, ISBN 978-3-8053-3759-5, EUR 86,00
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