Kulturgeschichtlich-literarische Stadt- oder Landschaftsbeschreibungen haben Konjunktur. Sie sollen ein akademisch-intellektuelles Publikum mit dem Gegenstand vertraut machen und aktuelle Bezüge herstellen. Diesen Ansatz verfolgt auch Uwe Rada in dem vorzustellenden Buch über die Memel.
Dabei geht Rada im ersten Kapitel zunächst auf den erinnerungspolitischen Umgang mit Ostpreußen in den beiden deutschen Staaten ein, wobei er in einer für den deutschen Leser durchaus interessanten Volte auch den polnischen Verlust an "Ostgebieten" thematisiert. Daraus ergibt sich, dass das zweite Kapitel den "alten und neuen Grenzen an der Memel" gewidmet ist. Im anschließenden Abschnitt geht es um die "Literatur an der Memel", wobei Dichtern wie Johannes Bobrowski oder Adam Mickiewicz die Reverenz erwiesen wird. Sehr anregend erscheint in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass die am Fluss entstandene Poesie und Prosa "den Sprung in die Städte" nicht "vollbracht" habe. Davon ausgehend endet das Kapitel mit einem gelungenen Schlussakkord: "So bleibt die Memel auch in ihrer Literatur ein Strom der Natur, der die Städte eher streift, als dass er sich in ihnen aufhält" (75).
Weiter geht es mit einem geografischen Abschnitt, der den Lauf des Flusses porträtiert. Natürlich dürfen auch die preußische Königin Luise und ihr Treffen mit Napoleon nicht fehlen, zumal diese Begegnung im Zusammenhang höchster Diplomatie stattfand: Ein (französischer) Kaiser und ein (russischer) Zar trafen sich auf zwei Flößen auf der Memel - und als Zaungast ein weitgehend machtloser (preußischer) König. Von den Imperatoren führt der Weg zu Herzögen und (Groß-)Fürsten, die die Flussregion ebenfalls (mit)geprägt haben. Schließlich wird mit der Überschrift "Ludendorff und Pi łsudski" die Zeit der großen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts angesprochen. Das nächste Kapitel gilt der jüdischen Geschichte der Memel, und Rada hat ein wichtiges Typikum bereits in den ersten Sätzen eingefangen: "Anders als Deutsche, Litauer, Weißrussen und Polen lebten die Juden auch nicht nur an einem Abschnitt der Memel, sondern ließen sich überall zu Seiten ihres fast tausend Kilometer langen Laufes nieder. So ist die Memel vor allem ein jüdischer Strom gewesen" (185). Die anschließenden Ausführungen erlauben dem Leser einen Blick in die im Holocaust vernichtete jüdische Lebenswelt des Shtetl. Von den Ghettos und Massenverbrechen führt der Weg zurück an den Fluss, dem nun die Aufmerksamkeit als Wasserstraße gilt. Natürlich geht es um den literarisch verfestigten Mythos der Holzflößerei auf dem Strom. Gegen Ende des Buches rückt das für diese Region als Zäsur zu bezeichnende Jahr 1945 in den Vordergrund. Das Kaliningrader Gebiet, die Geschichte der litauischen und der weißrussischen Sowjetrepublik werden unter der treffenden Überschrift "Dreimal Sozialismus. Die sowjetische Memel" (243) vorgestellt. Als Ausklang führt der Autor die Leser in die immer noch weiten Wälder, nach Memel (Klaip ēda) und in das litauisch-polnisch-weißrussische Dreiländereck.
Durchsetzt mit vielen Zitaten und durch Erkundungen vor Ort fühlt sich der Leser oft an einen literarischen Reiseführer und weniger an eine Kulturgeschichte erinnert. Manchmal verliert sich der Stil zudem allzu sehr im Umgangssprachlichen: "Kaum in Druskininkai angekommen, werfen wir die Rucksäcke aufs Hotelbett, kurz noch ein Blick auf die Karte, dann rauf auf die Räder und in die Pedale getreten" (87). Aus diesen Sätzen wird deutlich, dass sich der Autor dem Fluss auf einer Fahrradtour genähert hat, und in dieser exakten Autopsie liegt auch der Grund, dass immer wieder Gegenwärtiges mit Vergangenem verbunden wird. Manchmal sind diese Wechsel sehr abrupt, und man wäre dankbar gewesen, wenn Gedankengänge, an denen Rada gerade Interesse geweckt hat, noch weitergeführt und vertieft worden wären. Auch der ein oder andere stilistische Fehlgriff findet sich: "Der Friede von Tilsit gehört seit diesen Tagen im Juli 1807 zu der Stadt an der Memel wie der berühmte Käse, der heute noch hergestellt wird" (108). Anzumerken sind zudem einige historische Schwächen: Den 1923 von Kaunas aus initiierten "Aufstand" im Memelgebiet als Reaktion auf den Verlust des Vilniusgebietes an Polen zu interpretieren (177, 212), ist von der Forschung schon lange zurückgewiesen worden. Ganz im Gegenteil war der litauische Griff nach Memel mit der deutschen Seite abgesprochen worden, die eine litauische Präsenz in der Stadt einer polnisch-französischen Ägide bei weitem vorzog. Die Taryba erklärte Litauen am 16. Februar 1918 keineswegs zur "unabhängigen Republik" (172), sondern sprach von einem auf demokratischen Grundlagen basierenden unabhängigen Staat, dessen Staatsform eine Nationalversammlung bestimmen solle.
Insgesamt gesehen wird das Buch jedoch zweifellos seinen Weg gehen und hoffentlich vielen, die sich für diese historisch immer umstrittene, durch eine besondere Art des Zusammenlebens verschiedener Ethnien charakterisierte Region interessieren, einen ersten anregenden Kontakt mit den Ereignissen und Kulturen am Lauf der Memel vermitteln.
Uwe Rada: Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes, München: Siedler 2010, 368 S., ISBN 978-3-88680-930-1, EUR 19,95
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