Hauptabsicht des Buchs ist es, der verbreiteten (und sicher unrichtigen) Auffassung entgegenzutreten, der Alte Orient und namentlich Griechenland hätten zum Schatz der europäischen Zivilrechtswissenschaft nichts Nennenswertes beigetragen, dass diese Aufgabe vielmehr maßgeblich Rom zugefallen sei. Die verbreitete Antinomie: "Griechenland = Philosophie, Dichtung, Kunst" und "Rom = Staat und Recht" bezeichnet Heinz Barta als klischeehaft (6). Damit widerspricht er vielen Säulenheiligen der antiken Rechtsgeschichte wie Fritz Pringsheim, Hans Julius Wolff und namentlich Max Kaser. Er erinnert bereits eingangs etwa an die früh vorhandene Kunst der Gesetzgebung, die Rhetorik, die Entwicklung der Kautelarjurisprudenz und eines Beamtenstands in Griechenland (4f., siehe auch 144ff.). Barta hat seine Revision des verfälschenden Geschichtsbilds auf vier Bände angelegt, deren erster hier zu besprechen ist. Programmatisch erklärt er: Graeca leguntur (557). Wer wollte ihm da widersprechen!
Einer ausführlichen Einleitung folgt das erste und zugleich einzige Kapitel, das den wenig aussagekräftigen Titel "Perspektiven" trägt; die weiteren zehn Kapitel werden über die restlichen drei Bände verstreut sein. Der bereits erschienene zweite Band behandelt Drakon und Solon, der dritte soll Aischylos' Eumeniden, dem Melierdialog des Thukydides sowie Euripides und dem Naturrecht gelten. Band 4 soll sich Platon, Aristoteles und dem Recht sowie Recht und Religion widmen und neben einem Epilog eine Zusammenfassung bieten.
Der erste Band enthält zehn Unterkapitel: "Zum Buchtitel" - eine Anspielung auf die Maxime der mittelalterliche Glossatoren des nicht wenige griechische Texte enthaltenden Corpus iuris civilis -, "Zum Wert humanistischer Bildung", "Europa und griechisches Recht", "Phasen der römischen Rechtsentwicklung", "'Andersheit' der griechischen Rechtskultur?", "Gab es ein 'gemeines' griechisches Recht?", "Olympische Religion und Heroenkulte", "Rechtskollisionen im archaischen Griechenland", "Anfänge des Völkerrechts", "Rezeption durch Rom?".
Die Hauptthese des Buchs fügt sich ohne weiteres in den mainstream unserer Zeit, der sich dem Nachweis von Kulturtransfers und sogenannten legal transplants verschrieben hat. Beizupflichten ist Barta sicher darin, dass eine zu einseitige Betonung des römischen Beitrags zur europäischen Rechtsgeschichte zu kurz griffe. Gerade die griechische Demokratie, aber etwa auch die Dialektik und Rhetorik mit ihrem großen Einfluss nicht zuletzt auf Rom würden auf diese Weise nicht angemessen gewürdigt. Skeptisch bin ich freilich, was die griechischen Errungenschaften auf dem für den Alltag mit Abstand wichtigsten Rechtsgebiet angeht: dem Zivilrecht. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade Max Kaser einer der Hauptgegner Bartas ist; allenfalls überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass Barta selbst als Zivilrechtler an der Universität Innsbruck lehrt. Wer das praktische Gespür, die intellektuelle Brillanz und die gedankliche Schärfe sowie vor allem die treffsicheren Wertungen der römischen Juristen der ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte mit den doch eher rudimentären, vorwissenschaftlichen Erkenntnissen der Griechen auf dem Gebiet des Zivilrechts vergleicht, wird nicht umhin können, die weltgeschichtliche Bedeutung der römischen Rechtswissenschaft anzuerkennen. Die Unterscheidung von Rechtswissenschaft und Rechtskunde halte ich immer noch für zielführend. Das römische Recht hat sich überdies, vermittelt durch das Corpus iuris civilis, direkt in die modernen europäischen Kodifikationen "verpflanzt". Es erübrigen sich hier also schwierige indirekte und im Einzelnen auch höchst umstrittene Transferkonstruktionen wie beim griechischen Recht. Schließlich durfte sich Bartas Beweisführung nicht darin erschöpfen, in einem Unterabschnitt (529-538) katalogartig "nachweisbar(e), spürbar(e) oder wenigstens wahrscheinlich(e)" Einflüsse des griechischen Rechts auf das römische und das heutige Recht aus der Sekundärliteratur zusammenzustellen (531). Auf diese Weise wird Rechtstransfer nur behauptet, nicht nachgewiesen. Selbst wenn man aber die behaupteten Einflüsse als erwiesen unterstellen wollte, ergäbe sich daraus für das Zivilrecht wenig: Die von Barta häufig betonte und schon den Griechen zugeschriebene Unterscheidung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall beispielsweise ist nicht so bemerkenswert, als dass man sie den Römern exklusiv zuschreiben müsste, um deren dogmatische Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Was die Originalität des römischen Rechtsdenkens anbelangt, bekenne ich mich ohne Einschränkung zu den Einsichten Kasers.
Das Buch leidet an beachtlichen Mängeln. Es ist ungeordnet und assoziativ-essayistisch. Das liegt an den "flachen" Gliederungsebenen, die es Barta ermöglichen, Unterabschnitt an Unterabschnitt zu fügen und zu allem und jedem Stellung zu nehmen. Weder bleiben dem Leser Bartas negative (und wahrscheinlich zutreffende) Einschätzung der altsprachlichen Fertigkeiten der Rechtshistoriker, noch seine Überzeugungen zu Erziehungsfragen und dem Wert humanistischer Bildung im Allgemeinen oder juristischen Studienplänen im Besonderen oder die in der Tat lamentable "Betriebsverwirtschaftung" unserer Universitäten erspart. Die vielen Unterabschnitte sind häufig nicht besonders aussagekräftig betitelt: Wer könnte schon etwas mit der Überschrift "Egon Weiss" (527) anfangen, und worin unterscheidet sich eigentlich der Titel des dritten Abschnitts "Europa und griechisches Recht" von dem Inhalt des gesamten Buches? Die gedanklich wenig durchdrungene Gliederung verführt Barta zu allerlei Geschwätzigkeiten, Wiederholungen, Prolegomena, programmatischen Absichtserklärungen und auch zu manch einem Gemeinplatz wie etwa zur "richtigen Fragestellung" als Voraussetzung von Wissenschaft (65).
Geradezu unerträglich sind aber die vielen seitenlangen Zitate aus der Sekundärliteratur, die, zumeist im Petitdruck wiedergegeben, bei vorsichtiger Schätzung mindestens die Hälfte des Buches ausmachen. Im Grunde genommen handelt es sich bei Bartas Buch um Tertiärliteratur, einen publizierten Zettelkasten, den man nur äußerst widerwillig zur Hand nimmt. Der Respekt vor der großen Erudition seines Verfassers tritt im Laufe der Lektüre zunehmend in den Hintergrund. Die meisten Unterabschnitte beginnen mit (zeilen- oder seiten-)langen Zitaten aus dem Schrifttum. Ein Beispiel für dutzende ist etwa der folgende Abschnittsbeginn unmittelbar nach einer Überschrift: "In seinem Aufsatz zur griechischen Rechtswissenschaft aus dem Jahr 1931 bringt Partsch zahlreiche Beispiele für die Rezeption griechischen Rechts durch die Römer: [...]" (522). Es folgen drei (!) Seiten Zitat. Interessant wäre es für den Leser zu wissen, was Barta zu den von ihm aufgeworfenen Fragen zu sagen hätte. Zu mehr als einer Bekräftigung oder Ablehnung seiner Zitate - zumeist erneut unter Anführung sekundären Schrifttums - kann sich der moderne Kompilator Barta aber in aller Regel nicht durchringen. Wo wörtliche Zitate selbst ihm unangemessen erscheinen, entscheidet er sich für seitenlange Inhaltsangaben wie etwa zu Eliades "Geschichte der religiösen Ideen" (247-251). Sollte die Unselbständigkeit Bartas fehlender akademischer Sozialisation in der alten (Rechts-)Geschichte geschuldet sein? Bestenfalls kann man sein Buch für einen Forschungsbericht halten, die Quellen jedenfalls kommen in ihm nicht zu Wort. Die häufigen redaktionellen Fehler - wie etwa Kommafehler, Ellipsen (153 in Fußnote. 629), doppelter Abdruck in Text und Fußnotenapparat (173) oder Fehlen ganzer Sätze (200, Zeile 3 und 4) - tun ihr Übriges, das Lesevergnügen auf ein Minimum zu reduzieren.
Heinz Barta: "Graeca non leguntur"? Zu den Ursprüngen des europäischen Rechts im antiken Griechenland. Band 1, Wiesbaden: Harrassowitz 2010, XIX + 683 S., ISBN 978-3-447-06121-6, EUR 58,00
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