Je näher der hundertste Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs rückt, desto stärker gerät das Ereignis wieder in den Fokus der Historiker. Der "erneuerte" Blick jüngerer Historikergenerationen weiß durchaus Unbekanntes hervorzufördern. Allein die schiere Länge des Krieges stellte Heerführer wie Soldaten und die Gesellschaften der kriegführenden Nationen vor große und ungeahnte Herausforderungen, war Europa nach dem Wiener Kongress im 19. Jahrhundert doch lediglich Schauplatz zeitlich und geographisch begrenzter Kriege gewesen. Die zwei hier zu besprechenden Bücher bieten beide - unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Seite - einen vergleichenden Ansatz, der dazu angetan ist, neue Fragen aufzuwerfen. Robert Nelson widmet sich dem damals neuartigen Medium der Soldatenzeitschriften, Heather Jones dem Phänomen der Kriegsgefangenschaft, das im Ersten Weltkrieg bislang unbekannte Dimensionen erreichte.
Die deutschen Soldatenzeitungen waren lange kein Gegenstand historischer Forschung, obwohl ihre Anzahl außerordentlich groß und diversifiziert ist: es gab Blätter an der Westfront und an der Ostfront, Schützengrabenzeitungen, Landsturmblätter, Nachrichten für spezielle Divisionen, Korps- und Armeen oder einzelne Kampfeinheiten. Die Soldaten an der Westfront wurden genauso mit Lesestoff versorgt - der gerne sprechende Namen trug wie"Der Drahtverhau" oder "Im Schützengraben in den Vogesen" - wie die Kameraden an der asiatischen Front, die sich in "Am Bosporus - deutsche Soldatenzeitung" oder die "Armee-Zeitung Jildirim" vertiefen konnten. Erstmals gab Karl Kurth 1937 einen Überblick über die Feld- und Schützengrabenzeitungen des Weltkrieges; einige Zeitungen, die er damals noch verzeichnen konnte, sind der Nachwelt inzwischen verloren gegangen. Nelson bezieht sich insbesondere hinsichtlich der Zusammensetzung der Redaktionen auf die Forschungsergebnisse Kurths. Diese Redaktionen rekrutierten sich im Regelfall aus Angehörigen des Bildungsbürgertums, viele übten künstlerische oder Lehrberufe aus. Ihr Ziel war es nicht nur - unter Einhaltung von Geheimhaltungspflichten - zu informieren oder zu unterhalten, sondern auch ihre Version der Kriegsereignisse zu überliefern bzw. wie es im Blatt "Schützengraben" formuliert wurde, den Soldaten ein treuer Kamerad zu sein und ihnen den Rücken zu stärken. In fünf Kapiteln schildert Nelson die Bedingungen, unter denen die Zeitungen entstanden - hier spielte die Zensur eine wichtige Rolle -, welche Inhalte sie vermittelten, welches Bild vom Krieg sie zeichneten, wie andere Nationen dargestellt wurden und wie der Krieg gerechtfertigt wurde. Im Vergleich mit alliierten Veröffentlichungen für Soldaten aus der Kriegszeit kommt Nelson zu dem Schluss, dass die deutschen Soldatenzeitungen deutlich vielfältiger und weiter verbreitet waren als die Produkte des alliierten Schützengrabenjournalismus. So ist davon auszugehen, dass die große Mehrheit der Angehörigen der deutschen Streitkräfte Zugang zu mindestens einem dieser Blätter hatte und es las. Die deutschen Soldatenzeitungen, die eine große Bandbreite journalistischer Tätigkeit - von Dilettantismus bis zu höchster Professionalität - zeigen, erfreuten sich großer Popularität und erreichten dementsprechend gute Auflagenzahlen, wohingegen die alliierten Zeitungen eine deutliche kleinere Gruppe von Militärangehörigen erreichten. Obwohl die Zeitungen zwangsläufig über weite Strecken Propaganda der Heeresleitung reflektieren, gelang es den Redaktionen auch, die Probleme der gemeinen Soldaten zu integrieren. Die Autoren der Soldatenzeitungen schrieben stets für ihre Vorgesetzten wie für ihre Massenleserschaft. Das Wertsystem, auf das sie rekurrierten, war das des deutschen Bürgertums - obwohl ihre Leserschaft aus allen Gesellschaftsschichten kam. Gleichwohl gelang es - so Nelson (238) - diesen Journalisten besser als ihren britischen Alter egos, den richtigen Ton zu treffen, wohingegen bei den Briten der ironische "public-school journalism" dominant vertreten war. Eines der spannendsten - und weit über das Thema hinausweisenden - Ergebnisse der Studie von Nelson ist, dass in den britischen und französischen Soldatenzeitungen auf Unterhaltungskunst Bezug genommen wurde, die allen Briten oder Franzosen vertraut war, wohingegen die deutschen Soldatenzeitungen nicht in der Lage waren, eine gemeinsame Unterhaltungskultur aufzugreifen: die Lieder oder Stücke, auf die sich die Journalisten bezogen,entstammten alle der Hochkultur, ein "nationaler Diskurs" über populäre Lieder oder Sport war - aufgrund des ausgeprägten deutschen Regionalismus - deutlich schwächer vertreten (239). Das einende Element musste daher der Appell an die Kameradschaft der Soldaten sein, an den heldenhaften Mann und die Trauer um die Gefallenen. Hasstiraden gegen die Kriegsgegner sind interessanterweise weder in den britischen und französischen noch deutschen Publikationen der Soldaten enthalten. Es war der "Glaube" an den legitimen Anlass für den Krieg, der die Soldaten zusammenhielt - nicht der Hass gegen die gegnerischen Kombattanten.
Heather Jones' Studie über Gewalt gegen Kriegsgefangene ist noch stärker als Nelsons Werk als Vergleich angelegt, der klug auf die drei westlichen Hauptkriegsteilnehmer Deutschland, Frankreich und Großbritannien abhebt und auf intensiven Recherchen in den Archiven der drei Nationen ebenso wie der Rezeption der umfangreichen Literatur der drei Länder beruht. In drei chronologisch gegliederten Teilen befasst sie sich mit den Repräsentationen von Gewalt gegen Kriegsgefangene in der Propaganda in den Jahren 1914 bis 1916, mit Gewalt und Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen in den Jahren 1917 und 1918 sowie mit den Repatriierungen und Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft 1918 bis 1921. Jones zeigt, dass Kriegsgefangenschaft tatsächlich ein zentrales Moment des Kriegsgeschehens war - mindestens 10 Prozent der beteiligten ca. 60 Millionen Soldaten, also etwa 6,6 bis 8 Millionen Menschen, gerieten in Feindeshand. Die Darstellung von Gewalt gegen Kriegsgefangene basierte im wesentlichen auf realen Vorkommnissen und war keineswegs nur Propaganda. Je länger der Krieg dauerte, um so stärker radikalisierte sich nicht nur das Kriegsgeschehen, sondern vielmehr auch die Gesellschaften der kriegsführenden Nationen, die die Kriegsgefangenschaft nicht unwesentlich beeinflussen sollten: Kriegsgefangene wurden immer stärker nicht mehr als Nonkombattanten, sondern als feindliche Soldaten wahrgenommen, die Übereinkünfte der Haager Landkriegsordnung (1899) hinsichtlich des Einsatzes für Arbeiten mit direktem Kriegsbezug schließlich völlig ignoriert (372). Allerdings bewegte sich die Radikalisierung in einem Rahmen, der bestimmte Grenzen nicht überschritt, so dass die Mehrheit der Kriegsgefangenen aller drei Nationen ihre Internierung überlebte. Politik und Armeeführung ließen sich überdies durchaus von der Öffentlichkeit beeinflussen: Proteste in Großbritannien und Frankreich gegen die Behandlung von (deutschen) Kriegsgefangenen verhinderten eine Eskalation von Gewalt. Humanitäre Errungenschaften - wie die Intervention neutraler Staaten oder etwa die Möglichkeit, Kriegsgefangenen Pakete zukommen zu lassen - hatten durchaus zweischneidige Wirkungen: das neu etablierte System der Lagerbesuche durch das Rote Kreuz konnte eingeschränkt oder unterlaufen werden, ebenso verließ sich die Leitung der Kriegsgefangenenlager zunehmend darauf, dass die Ernährung der Kriegsgefangenen durch die Pakete supplementiert würde. Die Repatriierung der Kriegsgefangenen dauerte teils bis in die frühen 1920er Jahre. Jones insistiert, dass zur Gewalt gegen Kriegsgefangenen eben nicht nur die Fälle etwa mit Todesfolge zu rechnen sind. Ihr Hauptanliegen ist es, den Ersten Weltkrieg als Ausgangspunkt für die Zwangsarbeit als Phänomen des 20. Jahrhunderts zu sehen, da alle drei behandelten Nationen Kriegsgefangene in Strafarbeitslagern einsetzten. Ob man der Autorin hier hinsichtlich der Terminologie des "totalen Krieges" (375) folgen kann, sei dahingestellt. Sie zeigt aber deutlich, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich und Großbritannien bereit waren, sich in ihrer Behandlung der Kriegsgefangenen als Reservoir für Zwangsarbeit weit vom Völkerrecht zu entfernen und sieht eine klare Kausalkette zwischen Deutschlands Verwendung von Kriegsgefangenen in Zwangsarbeitsbataillonen im Ersten Weltkrieg und den Konzentrationslagern im Dritten Reich. Insbesondere für Deutschland diagnostiziert sie eine Skrupellosigkeit gegenüber Kriegsgefangenen, die als Verfügungsmasse für die deutsche Armee dienten, während in Großbritannien und Frankreich zivile Überwachungs- und Interventionsmechanismen zugunsten der Kriegsgefangenen existierten. Während für Großbritannien weiterhin ein Ehrenkodex hinsichtlich der Gewalt gegenüber gefangenen Gegnern existierte, wich Frankreich vom Pfad der Tugend insbesondere 1916/1917 ab, bis Regierungsinterventionen die Anwendung von Gewalt gegenüber Kriegsgefangenen erschwerten. Eine differenziertere Perspektive gegenüber dem Deutschen Reich wäre der Autorin möglich gewesen, wenn sie allein die schiere Menge der Kriegsgefangenen in deutscher Hand stärker berücksichtigt hätte: kurz vor Kriegsende waren 2,4 Millionen Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam, während die Briten 328.000 frühere Soldaten und die Franzosen 350.000 Kriegsgefangene hatten. (Interessanterweise war die Zahl der Kriegsgefangenen im Gewahrsam der Regime, deren Zusammenbruch sich abzeichnete, um ein vielfaches Höher als das der siegreichen Nationen: Österreich-Ungarn hatte 916.000 Kriegsgefangene, das Zarenreich 2,25 Millionen Kriegsgefangene.) [1] Dass die Ernährungslage in Deutschland für die gesamte Gesellschaft (und nicht nur für die Gefangenen) schlecht war, dass eine derartige Menge von Kriegsgefangenen größere logistische Anstrengungen erforderte, ganz zu schweigen von den Anforderungen, die die unterschiedlichen Nationalitäten der Internierten stellten, wäre ebenfalls in Rechnung zu stellen. Hinzu kam, dass die Deutschen sich an der West- und Ostfront in besetztem Gebiet befanden, aus ihrer Sicht also "mit dem Rücken zur Wand" operierten und daher möglicherweise leichter zur Gewalt griffen.
Ein Problem, das beiden Büchern inhärent ist, ist die mitschwingende Perspektive des Zweiten Weltkriegs: Nelson zeigt dies anhand der ablehnenden Haltung deutscher Soldatenzeitungen gegenüber den als "primitiv" empfunden Slawen, bei Jones ist es die Interpretation der Kriegsgefangenenlager als "missing link" zu den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Es ist aber zu bedenken, dass man den Ersten Weltkrieg damit zu stark lediglich als Vorläufer des Zweiten Weltkrieges einstuft, ohne seine genuine Eigendynamik zu berücksichtigen. Andererseits verfolgen beide Autoren den vielversprechenden Ansatz der Militärgeschichte als Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Hervorzuheben ist überdies, dass beide Werke im wesentlichen aus den Quellen gearbeitet, mit gut ausgewähltem Bildmaterial bestückt und in bester angelsächsischer Tradition außerordentlich lesbar geschrieben sind.
Anmerkung:
[1] Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, 641.
Robert L. Nelson: German Soldier Newspapers of the First World War, Cambridge: Cambridge University Press 2011, XII + 268 S., ISBN 978-0-5211-92910, GBP 60,00
Heather Jones: Violence against Prisoners of War in the First World War. Britain, France, and Germany, 1914-1920 (= Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare), Cambridge: Cambridge University Press 2011, XV + 451 S., ISBN 978-0-521-11758-6, GBP 65,00
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