Ausgesprochen reizvoll ist der Ansatz, über Personen, ihre Biographie, ihr konkretes Wirken nicht nur einen Zugang zum Verständnis des jeweiligen individuellen politischen Handelns zu gewinnen, sondern auch der Institutionen, in denen diese Personen tätig waren oder sind, die sie durch ihr Handeln prägten und von denen sie umgekehrt geprägt wurden.
Ein wunderbares Vorbild für eine solche Publikation ist das inzwischen als "Klassiker" der europapolitischen Literatur einzustufende Büchlein von Theo M. Loch "Die Neun von Brüssel" aus dem Jahr 1963 [1], in welchem der Journalist und spätere Präsident der Europa-Union Deutschland die EWG-Kommissare der frühen sechziger Jahre lebendig skizziert und das europapolitische Wirken von Walter Hallstein, Sicco Mansholt, Hans von der Groeben, Jean Rey und ihrer Mitstreiter dem Leser auch nach inzwischen rund fünfzig Jahren anschaulich vermittelt. Dies alles auch sprachlich souverän, so dass das Buch auch im großen zeitlichen Abstand zur Entstehung noch immer eine fesselnde Lektüre sowohl für die Erlebnisgeneration als auch für Nachgeborene ist.
In ähnlicher Weise spannend, wenn auch in viel nüchternerer, wissenschaftlicher Sprache und sorgfältig mit Anmerkungen belegt, informiert die Politikwissenschaftlerin Beate Neuss über die (deutschen) Mitglieder in der Hohen Behörde der Montanunion (EGKS) sowie in den Kommissionen von Euratom, EWG- bzw. EG-Kommission von den Anfängen bis in die 1980er Jahre. In ihrem 1988 erschienenen, überaus hilfreichen Buch mit dem provokativen Titel "Europa mit der linken Hand? Die deutschen Personalentscheidungen für die Kommission der Europäischen Gemeinschaften" stellt die Autorin nicht nur die Biographien und das Handeln der Akteure in Brüssel dar, sondern analysiert auch die problematischen Rekrutierungsmechanismen in der Bundesrepublik Deutschland. [2] Auf der Grundlage dieser und weiterer klug herausgearbeiteter kritischer Studien [3] hat sich mittlerweile zumindest auf der Beamtenebene in Brüssel einiges verändert, zu den Kommissaren liegt jedoch seit längerem keine aktuelle Untersuchung vor.
Dementsprechend wurde die schon seit längerem angekündigte Publikation über die Mitglieder der Europäischen Kommission mit großer Neugier erwartet. Nun endlich liegt das Buch von Albrecht Rothacher vor, - und es ist alles in allem leider eine große Enttäuschung. Der Autor, als ehemaliger Beamter der Kommission ein erfahrener Insider, trägt biographische Notizen zusammen, die allerdings teilweise einen schlampigen Wikipedia-Eintrag qualitativ noch deutlich unterschreiten. Die Beiträge, angereichert durch eigene, zum Teil haarsträubende anekdotische Erlebnisse des Autors, sind liederlich formuliert, und das Buch strotz nur so von Rechtschreibfehlern. Es ist unverständlich, dass ein renommierter Verlag so etwas unlektoriert veröffentlicht.
Der Autor beschreibt die Lebensläufe und politischen Werdegänge der vierzehn deutschen und drei österreichischen Kommissare in EWG, EG und EU. Die Mitglieder der Hohen Behörde der EGKS werden nicht behandelt. In den siebzehn biographischen Kapiteln werden unterschiedlich umfangreich die Herkunft der Kommissare, ihr politischer Aufstieg und ihr politisches Aus nach dem Ende ihrer europäischen Laufbahn dargestellt. Dabei stützt sich Rothacher nicht nur auf seriöse Literatur und Presseberichte, sondern kolportiert zum Teil auch Belanglosigkeiten und zweifelhafte Gerüchte im Stil von ärgerlichem Illustrierten-Trash. Selbst wenn man politisch nicht alle Kommissare mag, sind einige der Kapitel von ihrer Substanz und Wertung doch mehr als grenzwertig.
Brauchbar, wenn auch ebenfalls sehr subjektiv, sind dagegen die drei einleitenden Kapitel, in denen der Autor eine systematisierende Sicht auf die Kommissare versucht. Er beschreibt die Stellung der Kommissare im EU-Institutionengefüge und vergleicht Lebensläufe, Karrieremuster, Arbeitsweisen und Lebensstile. Aber auch dies geschieht eher essayistisch. Rothacher wirft Probleme auf, stellt viele Fragen, bleibt aber die Antworten schuldig. Auswege aus der reklamierten europäischen Führungskrise oder zumindest ein kritisches, ausgewogenes Fazit werden leider nicht präsentiert.
Wer umfassend, zuverlässig und detailreich über die Mitglieder in der Hohen Behörde der Montanunion sowie in den Kommissionen von Euratom, EWG- bzw. EG-Kommission informiert werden möchte, greift folglich weiterhin am besten zu den erwähnten Büchern von Loch und Neuss. Eine gute Ergänzung neben den verschiedenen Autobiographien einzelner Kommissare, die naturgemäß nur bedingt kritisch reflektierend sind, bieten auch die umfangreichen Zeitzeugengespräche von Michael Gehler mit ehemaligen Kommissaren [4], die durch die exzellente Gesprächsführung hervorragend Persönlichkeit und Politik der Befragten deutlich machen und die seit 2002 als Discussion Papers des Bonner Zentrums für Europäische Integrationsforschung (ZEI) veröffentlicht werden.
Anmerkungen:
[1] Theo M. Loch: Die Neun von Brüssel, Köln 1963.
[2] Beate Neuss: Europa mit der linken Hand? Die deutschen Personalentscheidungen für die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, München 1988.
[3] Vgl. u.a. Beate Neuss / Wolfram Hilz: Deutsche personelle Präsenz in der EU-Kommission. Sankt Augustin 1999 (Interne Studie Nr. 180/1999 der Konrad-Adenauer-Stiftung).
[4] Hans von der Groeben: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler, Bonn 2002 (= ZEI, Discussion Paper C 108); http://www.zei.uni-bonn.de/dateien/discussion-paper/dp_c108_groeben.pdf
Fritz Hellwig: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler. Bonn 2004 (= ZEI, Discussion Paper C 129); http://www.zei.uni-bonn.de/dateien/discussion-paper/dp_c129_hellwig.pdf
Karl-Heinz Narjes: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler. Bonn 2004 (= ZEI, Discussion Paper C 135); http://www.zei.uni-bonn.de/dateien/discussion-paper/dp_c135_narjes.pdf
Peter M. Schmidhuber: Europäische Integration aus historischer Erfahrung. Ein Zeitzeugengespräch mit Michael Gehler. Bonn 2012 (= ZEI, Discussion Paper C 210); http://www.zei.uni-bonn.de/dateien/discussion-paper/dp_c210_schmidhuber
Die Zeitzeugengespräche mit den ehemaligen Kommissaren Martin Bangemann und Monika Wulf-Mathies stehen vor der Veröffentlichung.
Albrecht Rothacher: Die Kommissare. Vom Aufstieg und Fall der Brüsseler Karrieren. Eine Sammelbiographie der deutschen und österreichischen Kommissare seit 1958, Baden-Baden: NOMOS 2012, 254 S., ISBN 978-3-8329-7097-0, EUR 44,00
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