Die NS-"Euthanasie"-Verbrechen stellen einen heterogenen Komplex dar. Generell wird zwischen fünf oder sechs Verbrechensarten unterschieden. Erstens kam es nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besetzung Polens dort zur Erschießung und Vergasung von Patienten von Heil- und Pflegeanstalten. Solche Morde wurden in den in Osteuropa von Deutschland besetzten Gebieten während des gesamten Zeitraumes des Zweiten Weltkrieges ausgeführt. Zweitens wurden im sogenannten "Reichsausschussverfahren" ab Herbst 1939 bis Ende des Zweiten Weltkrieges behinderte Kinder und Jugendliche, die meist noch bei ihren Eltern lebten, in sogenannten "Kinderfachabteilungen" durch Medikamente getötet. Drittens wurden in speziell dazu hergerichteten Gasmordanstalten zwischen Januar 1940 und August 1941 im Rahmen der Aktion "T4" vor allem bereits hospitalisierte psychisch Kranke (und damit mehrheitlich Erwachsene) ermordet. Im Zuge der Aktion "T4" erfolgte im Sommer 1940 die erste gezielte und systematische Mordaktion gegen Juden, die von manchen Historikern als ein gesonderter "Euthanasie"-Tatkomplex eingeordnet wird. Drei der sechs Gasmordanstalten wurden, viertens, ab 1941 dazu benutzt, kranke oder aus anderen Gründen arbeitsunfähige Insassen von Konzentrationslagern zu ermorden ("Aktion 14f13"). Nach Abbruch der Aktion "T4" kam es, fünftens, zur sogenannten "dezentralen Euthanasie" in Dutzenden von Heilstätten, bei der durch Nahrungsvorenthalt, mangelnde Pflege oder Medikamentenvergiftung alte, psychisch und physisch kranke sowie geistig und körperlich behinderte Menschen getötet wurden.
Durch die historische Forschung ist inzwischen vieles über die "Euthanasie"-Morde im Nationalsozialismus und die Erinnerung an ihre Opfer bekannt, wobei es bezüglich des Wissensstandes aber deutliche Unterschiede zwischen den genannten Verbrechensarten gibt und generell die Morde innerhalb der Grenzen des damaligen Deutschen Reiches weit besser erforscht sind als jene, die außerhalb Deutschlands verübt wurden. Bei den Gedenkformen ist der Wissensstand schon ungleich schlechter, und über die Perspektiven und Ansichten der Betroffenen bzw. ihrer Nachfahren ist noch weit weniger bekannt. Es ist daher grundsätzlich zu begrüßen, dass sich ein Band wie der hier vorgestellte diesen Thematiken zuwendet, wobei es nicht überrascht, dass die gewählten Zugangsweisen sehr unterschiedlich sind und die Erkenntnisse sich nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen.
Das Thema der Aufarbeitung der NS-"Euthanasie" in der Gesellschaft und in Bereichen wie der Justiz, der Presse und den Medizin bildet den Hauptteil des Bandes. Neben Überlegungen zum Umgang mit den NS-Medizinverbrechen und ihren Opfern in der Medizinhistoriografie von Heiner Fangerau und Matthis Krischel, methodologischen Anmerkungen zur Problematik der Zeugenschaft der Opfer von C. Dorothee Roer sowie einer Kurzgeschichte der Aufarbeitung in Bernburg von Ute Hoffmann und einem Überblick zur Justiz von Jürgen Schreiber finden sich auch zwei bemerkenswerte Fallstudien. Thorsten Noack geht der Wahrnehmung der Aktion "T4" in der amerikanischen überregionalen Tagespresse nach. Wie hinreichend bekannt, waren die Vereinigten Staaten zwar bei der Zwangssterilisierung von Behinderten bis 1934 weltweit führend und machten schon seit 1907 Menschen, die als "defective" bezeichnet wurden, die legale Einwanderung unmöglich, dies aber ändert nichts daran, dass, wie der Autor aufzeigt, die NS-Psychiatriemorde sogar in leichtgewichtigen amerikanischen Veröffentlichungen wie dem Reader's Digest rezipiert wurden. Solche Berichte enthielten teilweise Bagatellisierungen und unangemessene Relativierungen in Form von Vergleichen mit den Opfern des Stalinismus. Selbst wenn damit die Morde insgesamt eher marginalisiert wurden, ändert dies nichts daran, dass - wie in Großbritannien auch - die Öffentlichkeit von solchen Morden (ebenso wie von der Judenverfolgung) hätte wissen können. Wie der Autor leider ohne genauere Hinweise bemerkt, sei selbst die weitergelaufene geheime "Kindereuthanasie" spätestens 1942 in den USA bekannt gewesen.
Einen anderen Zugang zum Thema findet Henning Tümmers, der ausführlich den Tübinger Grafeneck-Prozess analysiert. In diesem hervorragend erarbeiteten und minutiös dokumentierten Beitrag rekonstruiert der Autor nicht nur die Ereignisse im Gerichtssaal, sondern beleuchtet auch die Verhältnisse im schwäbischen Umfeld. Er zeigt dabei paradigmatisch Erinnerungsstrategien der frühen westdeutschen Nachkriegszeit auf, in der sich selbst die Täter, unterstützt von Teilen der Justiz, als Opfer darstellten, die Bevölkerung angesichts der eigenen vielschichtigen Notlagen den eigentlichen Opfern wenig Verständnis entgegenbrachte und die Gesellschaft als Ganze zeitlich eher "nach vorne" blicken und sich nicht mit alten Untaten abgeben wollte.
Drei Beiträge des Buches beschäftigen sich mit den Formen des Gedenkens an die Opfer. Zwei davon behandeln "T4"-Gedenkstätten, die bei sehr bescheidener finanzieller und personeller Ausstattung jährlich zusammen über 100.000 Besucher aufweisen. Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, schlägt in routinierter Weise den Bogen von der Geschichte des Tatortes hin zu der des Erinnerungsortes und der Inhalte der seit dem Jahr 2000 bestehenden Ausstellung. Er geht dabei auch auf aktuelle Ereignisse ein, einschließlich der jüngsten Entdeckung einer sich in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte befindlichen Aschenstätte der Opfer. Dies verweist darauf, dass es selbst fast 75 Jahre nach der Tat an einem relativ gut erforschten Täterort noch zu überraschenden Funden kommen kann. Georg Lilienthal geht als Leiter der Gedenkstätte Hadamar auf die Arten ein, mittels derer sich die Gedenkstätte bemüht, auch Angehörige von Opfern über die typischen Besucherprogramme hinaus zu betreuen. Besonders das Angebot eines Angehörigengesprächs dürfte in diesem Zusammenhang ein Novum sein. Ein dritter Beitrag, aus der Feder von Armin Tischler, widmet sich dem Bremer Krankenhausmuseum, das sich durch Ausstellungen und einen Gedenkkreis in besonderem Maße den Opfern der NS-Psychiatrie in Bremen widmet.
Diese drei Beiträge können die Bandbreite der bestehenden Erinnerungsformen nur punktuell abdecken. Themen wie etwa das Gedenken an die NS-"Kindereuthanasie" und ihre Opfer auch außerhalb der Grenzen des Dritten Reiches bleiben leider außen vor. Immerhin werden im Buch auch Perspektiven von Betroffenen thematisiert. Hedwig Thielen behandelt die Lebenssituation von Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen in den Jahren 1933-1945 anhand von Briefen, die überliefert sind, weil sie aufgrund der in ihnen ausgedrückten Institutionenkritik von der Anstaltsleitung zurückgehalten wurden. Zeichnungen des "T4"-Opfers Wilhelm Werner, die sich auf Zwangssterilisation und NS-Medizin beziehen, sind das Thema eines Beitrags von Thomas Röske und Maike Rotzoll. Stefanie Westermann wendet sich "Euthanasie"-Geschädigten zu, die auch nach 1945 mit gesellschaftlichen Stigmatisierungs- und anderen Abgrenzungsstrategien konfrontiert waren. Westermanns Befund, dass Nachkommen von Opfern sich bemühen, die "Normalität" der Familienbiografie hervorzuheben und die Ursachen von psychischer Krankheit und biografischer Devianz in ungünstigen sozialen Verhältnissen und Beziehungen zu verorten, stimmt mit den Ergebnissen anderer Forschungen überein, die darauf hinweisen, dass Behinderung und physische und psychische Krankheit ihren Charakter als sozialer "Makel" bis heute nicht verloren haben.
Es fällt auf, dass das Genre der literarischen Familienbiografie nicht berührt wird, obwohl es hier vielfache Bezugspunkte gibt und viele Betroffenendiskurse in dieses Genre fallen. In seinem Beitrag zeigt Gerrit Hohendorf auf, dass es durchaus Verbindungslinien zwischen nationalsozialistischem Krankenmord und gegenwärtigen Debatten um Sterbehilfe geben kann, wobei manche Argumente notwendigerweise kontrovers bleiben. Wie Hohendorf argumentiert, bleibt es generell nicht bei der Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht eines voll rational denkenden Individuums, das ein Leiden bis zum unausweichlichen Tod durch selbst ausgeführtes oder zumindest selbst geplantes Sterben abkürzen möchte. Allzu schnell kann es auch um das "Mitleiden" der Gesellschaft gehen, und allzu leicht können ökonomisch-utilitaristische familiäre oder gesellschaftliche Überlegungen in den Entscheidungsprozess einfließen, besonders dann, wenn ein Mensch nicht mehr willensfähig ist oder nicht mehr kommunizieren kann. Wie andere vor ihm hebt auch Hohendorf hervor, dass selbst das angeblich voll bewusste, autonome Individuum nicht davor gefeit ist, negative Werthaltungen der Gesellschaft bezüglich einer Behinderung oder Krankheit und deren negative Auswirkungen etwa auf Finanzen und Familie zu internalisieren, was einen Sterbewunsch und somit einen Bedarf an Sterbehilfe beeinflussen kann.
Man darf sich wünschen, dass der hier vorgestellte Band Anregung gibt, in ähnlicher Weise weitere Bereiche der NS-"Euthanasie"-Verbrechen und des Gedenkens an ihre Opfer zu behandeln.
Stefanie Westermann / Richard Kühl / Tim Ohnhäuser (Hgg.): NS-"Euthanasie" und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung - Gedenkformen - Betroffenenperspektiven (= Medizin und Nationalsozialismus; Bd. 3), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, 248 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-643-10608-7, EUR 39,90
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