Im Jahre 1972 wurde in Straßburg die erste Hippokratestagung abgehalten. Sie war zu ihrer Zeit etwas Besonderes, da sie zum ersten Mal ein Forum für diejenigen Forscher schuf, die sich mit der Person des Hippokrates bzw. den unter seinem Namen überlieferten Werken (= Corpus Hippocraticum) beschäftigten. Seitdem findet diese Tagung in regelmäßigen Abständen statt. Erst letztes Jahr traf man sich zum 14. Mal in Paris, die nächste Konferenz ist für 2015 in Manchester geplant; und obwohl im Bereich der antiken Medizin Hippokrates mittlerweile der Rang von Galen abgelaufen wurde, ist das Interesse an seiner Person nach wie vor ungebrochen.
Dies belegt nicht zuletzt auch der vorliegende Band. Er enthält 23 Beiträge, die ursprünglich als Vorträge bei der 12. Hippokratestagung, die im August 2005 in Leiden stattfand, gehalten wurden. Sie sind allesamt in englischer Sprache verfasst, was bedeutet, dass einige der Vorträge, die nicht auf Englisch präsentiert wurden, für die Publikation übersetzt werden mussten (X). Dies ist in gewisser Weise erstaunlich, da Veröffentlichungen auf Deutsch, Französisch, Italienisch und sogar Spanisch im Bereich der antiken Medizin nach wie vor üblich sind.
Das Thema dieses Bandes "Hippokrates und medizinischer Unterricht" ist sehr weit gefasst. Nur ungefähr die Hälfte der Beiträge beschäftigt sich mit der Person des Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.) bzw. mit den ihm zugeschriebenen Schriften. Die übrigen haben andere medizinische Autoren und Werke zum Gegenstand, deren Abfassungszeit sich vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis ins 18. Jahrhundert n. Chr. erstreckt. Dieses Prozedere lässt sich insofern rechtfertigen, als Hippokrates bzw. die Schriften aus dem Corpus Hippocraticum in medizinischer Hinsicht so einflussreich waren, dass letztlich alles irgendwie als hippokratisch angesehen werden kann. Der Aspekt des Fortlebens und -wirkens hippokratischer Medizin spielt in diesem Tagungsband im Rahmen des Oberthemas "Unterricht" also eine bedeutende Rolle. Als anschauliches Beispiel kann hier der Beitrag von L. Cilliers dienen (401-418). Die Autorin untersucht die Funktion der acht Briefe, die der gallische Adelige Marcellus - es ist unklar, ob er ein Arzt war - im 5. Jahrhundert n. Chr. seinem Kompendium über Heilmittel vorangestellt hat. Zwei dieser Briefe sollen von Hippokrates verfasst worden. Dabei handelt es sich allerdings eindeutig um Pseudepigraphe, was sich u.a. bereits daran zeigt, dass die Adressaten König Antiochos und Maecenas (!) sind. Gleichwohl sind diese beiden Briefe ein beredtes Zeugnis für die Bedeutung, die Hippokrates noch ca. 800 Jahre nach seiner mutmaßlichen Lebenszeit im Rahmen der Präsentation von medizinischen Handbüchern zukam.
Der Tagungsband selbst ist insgesamt sehr heterogen ausgefallen, was natürlich v.a. dem Thema selbst geschuldet ist. In der Antike gab es nämlich nicht die eine Art des medizinischen Unterrichts, wie wir es aus der Moderne kennen. Man besuchte nicht eine einzige universitäre Institution, vielmehr konnte man wählen: Entweder lernte man beim Vater, bei einer anerkannten Autorität oder bei einer größeren Gruppe, die unter Umständen an einen bestimmten Ort gebunden war. Ebenso war das Lehrmaterial keineswegs festgelegt. Es gab sicher den rein praxisorientierten Unterricht am Krankenbett, darüber hinaus wissen wir aber auch von Lehrern, die die Lektüre von Handbüchern oder eben auch von Schriften des Corpus Hippocraticum verlangten. Vieles ist hier aber noch unklar, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass uns keine umfassende Darstellung wenigstens einer Form des medizinischen Unterrichts aus der Antike erhalten ist. Man muss ihn sich sozusagen selbst aus den verschiedenen Quellen rekonstruieren. Dieser Hintergrund erklärt, dass uns im vorliegenden Band kein systematischer, kohärenter Überblick geboten wird, sondern dass sich die Beiträge vielmehr mit sowohl einzelnen als auch ganz unterschiedlichen Aspekten beschäftigen. Um einige Beispiele zu nennen: So argumentiert L. Dean Jones, dass die hippokratische Schrift De medico nicht an den Studenten, sondern an den angehenden Lehrer gerichtet ist (53-72). P. K. Agarwalla untersucht, welche Bedeutung die Rhetorik für Praxis und Selbstdarstellung der frühen hippokratischen Ärzte hatte (73-85). Höchst interessant ist der Artikel von N. Massar, die anschaulich herausarbeitet, wie wichtig es für die Reputation und damit für das Einkommen von Ärzten war, eine anerkannte Autorität als Lehrer gehabt zu haben (169-186). G. Marasco betont weiterhin, dass der Medizinstudent in Alexandria, d.h. an der neben Athen wichtigsten Bildungseinrichtung aus der Spätantike, gleichzeitig auch andere Fächer wie Philosophie, Grammatik usw. studierte (205-219). Mit der Rolle römischer Hebammen bzw. ihrer Ausbildung beschäftigt sich C. Laes. Dabei kann sie überzeugend zeigen, dass die Voraussetzungen, die der Mediziner Soran (1.-2. Jahrhundert n. Chr.) bei den Hebammen erfüllt sehen wollte, kaum in der Wirklichkeit Umsetzung fanden und daher wohl eher dem Wunschdenken des Autors entstammen (261-286). C. Petit geht der Frage nach, welche Funktion die Figur des Hippokrates in dem in nachchristlicher Zeit verfassten medizinischen Handbuch Introductio sive medicus hat (343-359). P. Pormann zeigt auf, wie die Inhalte und Unterrichtsformen aus der spätantiken Schule von Alexandria im Orient übernommen wurden (419-441). Nützlich ist schließlich auch der vergleichsweise lange Artikel von J. A. López Férez, der Zeugnisse des Arztes Galen von Pergamon (gestorben 216 n. Chr.) über die medizinische Ausbildung seiner Zeit zusammengestellt hat (361-399).
Es ist hier nicht der Ort, auf die Beiträge im Einzelnen einzugehen. Daher sei nur ganz allgemein festgehalten, dass das Verdienst des vorliegenden Bandes zweifellos darin besteht, dass er nicht nur reichhaltiges Material bietet, sondern dass zum ersten Mal überhaupt das Thema des medizinischen Unterrichts in der Antike derart gebündelt und in umfassender Weise, d.h. unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wurde. Es steht zu wünschen, dass der Band den Anstoß für eine weitergehende Beschäftigung liefert. Denn eines dürfen wir nicht vergessen. Das Thema medizinischer Unterricht berührt unser Verständnis der antiken Welt nicht nur wissenschafts-, sondern auch mentalitätsgeschichtlich. Schließlich impliziert es die Frage, welche Voraussetzungen und welchen medizinischen Bildungsstand ein Arzt hatte. Und über eines waren sich die Ärzte schon in der Antike im Klaren: Der Heilungserfolg hängt stark davon ab, ob ein Patient Vertrauen zu seinem Arzt hatte.
Manfred Horstmanshoff (ed.): Hippocrates and Medical Education. Selected Papers Read at the XIIth International Hippocrates Colloquium, Universiteit Leiden, 24-26 August 2005 (= Studies in Ancient Medicine; Vol. 35), Leiden / Boston: Brill 2010, XXVIII + 564 S., ISBN 978-90-04-17248-7, EUR 140,00
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