Martina Steber hat mit ihrer Dissertation eine tiefgründige Analyse regionaler Sinnstiftungsangebote vorgelegt, deren Ergebnisse weit über das bayerische Schwaben hinausweisen. Wenn die Verfasserin abschließend von der Dialektik der sich rasant weitenden Räume seit dem 19. Jahrhundert und dem Rückzug in den kleinen Raum spricht, verweist sie implizit darauf, dass sich manche Entwicklungen großen Maßstabs nur dann verstehen lassen, wenn man sich auf Tiefenbohrungen im regionalen Rahmen einlässt. Die Auswahl des bayerischen Regierungsbezirks Schwaben erweist sich dabei als ausgesprochener Glücksfall. Man hat es hier nicht nur mit einer gemischt-konfessionellen Region zu tun, die sich durch ein Nebeneinander ländlicher Räume und traditionsbewusster Städte auszeichnet, sondern auch dadurch, dass Bayerisch-Schwaben keine eigenen staatlichen Strukturen hatte und integraler Teil des bayerischen Staatsverbands war. Das hatte Konsequenzen für die regionalen Selbstbeschreibungen und Identitätskonstruktionen und unterscheidet Stebers Untersuchung von anderen Studien, die sich in den letzten Jahren mit Regionalkultur und Heimatschutz über die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts beschäftigt haben.
Der besondere Vorzug der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass sie schon vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ansetzt und damit bereits die erste Phase regionaler Umdeutungen erfasst. Die Darstellung ist dabei völlig frei davon, einem teleologischen Grundmuster zu folgen und die Entwicklung seit der Kaiserzeit primär als Vorgeschichte der nationalsozialistischen Heimat-Propaganda zu erzählen. Vielmehr werden die drei Zeitabschnitte - Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Diktatur - in drei gleichgewichtigen Großkapiteln behandelt, die aufeinander aufbauen, wenn es darum geht, langfristige Entwicklungsprozesse zu beschreiben, die den Untersuchungsgegenstand aber auch sehr subtil in den jeweiligen historischen Kontext einordnen.
Der erste Zeitabschnitt, der den Ersten Weltkrieg mit einbezieht, zeichnete sich beispielsweise in Bayerisch-Schwaben dadurch aus, dass die Wittelsbacher Monarchie als unumstrittene Klammer des bayerischen Staates wahrgenommen wurde. Die tribalistische Deutung der regionalen Vielfalt im bayerischen Staatsverband hatte eine lange Tradition, leitete aber am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer ethnischen Interpretation kultureller und politischer Unterschiede über. Während die Integration in den bayerischen Staat als Vorstufe zur Reichseinigung grundsätzlich positiv bewertet wurde, wuchs auch in den älteren Geschichtsvereinen der Einfluss ethnisierter Narrative des Schwäbischen und heimatschützerischer Ideen, die in kulturkritischer Perspektive eine "andere Moderne" einforderten und neu-rechten, antipluralistischen Ideen den Weg bahnten. Während sich ähnliche Prozesse zur selben Zeit auch in anderen Regionen des Deutschen Reichs beobachten lassen, kam in Bayern hinzu, dass mit der Diskreditierung der Monarchie im Ersten Weltkrieg das wichtigste staatliche Bindeglied verlorenging.
Wenn viele Wurzeln der regionalen Umdeutungsprozesse auch schon in der Zeit vor 1914 lagen, wurden doch erst die spannungsgeladenen Jahre der Weimarer Republik zum Katalysator für eine fundamentale Radikalisierung heimatideologischer Vorstellungen und regionalkultureller Praktiken. In doppelter Abgrenzung zum revolutionären München und zur Weimarer Parteiendemokratie durchdrangen sich in Schwaben regionale Selbstdeutung und politische Praxis in einem solchen Ausmaß, dass die ethnisch fundierte Heimat-Ideologie zum Kristallisationskern einer bürgerlichen Sammlungsbewegung wurde, so Steber. Daran änderten auch die soziale Öffnung gegenüber der Landbevölkerung und den sozialdemokratischen Arbeitern sowie die vorsichtige Adaption massenkultureller Praktiken nicht viel. Auch wenn diese dem wachsenden Partizipationsbedürfnis entgegenkamen, blieb die Vorstellung von der Überwindung aller sozialen und politischen Gegensätze im vermeintlich unpolitischen Bezugspunkt der Heimat "ein zutiefst bürgerlicher Ordnungsentwurf des Regionalen" (311).
Daraus ergaben sich für die Nationalsozialisten Anknüpfungspunkte, die sie seit 1933 systematisch nutzten. Wie Steber überzeugend belegen kann, spielte die Zäsur der nationalsozialistischen 'Machtergreifung' für die schwäbische Regionalkultur nur eine untergeordnete Rolle. Während die Protagonisten der schwäbischen Heimat-Ideologie 1933 die Chance gekommen sahen, ihre kulturellen Ziele auf einer neuen Grundlage mit größtem Nachdruck durchsetzen zu können, nutzte die regionale Parteiführung um Gauleiter Karl Wahl die Gelegenheit, mit der Unterstützung der Regionalkultur wichtige gesellschaftliche Kreise für sich zu gewinnen. Neben diesem integrativen Ansatz diente die tribalistische Selbstbeschreibung Schwabens Wahl aber auch zur Abwehr konkurrierender territorialer Ansprüche und zur Selbstinszenierung als "Primus inter Pares", der angeblich instinktsicher den schwäbischen Volkswillen in politisches Handeln umsetzte (408). Während sich ähnliche Prozesse auch in anderen Gauen beobachten lassen, zeigt Steber am schwäbischen Beispiel, wie flexibel die mittleren Parteiinstanzen agierten, wenn es den eigenen politischen Interessen nützte. Zu einer Zeit, als die kulturellen Vorfeldorganisationen der Nationalsozialisten noch keinen Unterbau in den Regionen hatten, gelang es mit der Gründung eines schwäbischen Gaukulturverbands bereits im September 1933, die bestehenden Strukturen und Akteure der schwäbischen Regionalkultur an die Partei zu binden. Zu einem Bruch kam es wie in vielen anderen Regionen 1936/37, als die an der Aufrüstung orientierten technokratischen Interessen des Regimes immer stärker überwogen und die Partei zunehmend massenkulturelle Formen nutzte, um eine offizielle Gauidentität durchzusetzen. Interessanterweise korrespondierte diese Neuorientierung in Schwaben nicht nur mit dem Ende des Gaukulturverbands, sondern auch mit dem Scheitern aller weiteren Versuche, eine vergleichbare Gaukulturorganisation auf die Beine zu stellen.
Stebers Analyse bietet aufschlussreiche Einblicke in den Wandel bürgerlicher Sinndeutungen in den Übergängen vom späten Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zur NS-Diktatur. In deutlicher Abgrenzung von Celia Applegate[1] macht sie die "Heimat-Ideologie" mit dafür verantwortlich, dass gegen die Weimarer Parteiendemokratie gerichtetes antipluralistisches Denken immer stärkere Verbreitung fand und für weite Kreise der Bevölkerung den Weg ins 'Dritte Reich' ebnete. Das Einzige, was man an diesem Band bedauern mag, ist, dass Steber nicht über die Zäsur 1945 hinausgeht wie etwa Willi Obercromes "Deutsche Heimat" [2] oder die jüngst erschienene Dissertation von Petra Behrens über das Eichsfeld [3]. Auf jeden Fall sollte man der Autorin wünschen, dass ihr Band "vor Ort" ebenso rezipiert wird wie von der Fachwissenschaft.
Anmerkungen:
[1] Celia Applegate: A Nation of Provincials: The German Idea of Heimat, Berkeley 1990.
[2] Willi Obercrome: "Deutsche Heimat": Nationale Konzeption und regionale Praxis von Naturschutz, Landschaftsgestaltung und Kulturpolitik in Westfalen-Lippe und Thüringen 1900-1960, Paderborn 2004.
[3] Petra Behrens: Regionale Identität und Regionalkultur in Demokratie und Diktatur: Heimatpropaganda, regionalkulturelle Aktivitäten und die Konstruktion der Region Eichsfeld zwischen 1918 und 1961, Baden-Baden 2012.
Martina Steber: Ethnische Gewissheiten. Die Ordnung des Regionalen im bayerischen Schwaben vom Kaiserreich bis zum NS-Regime (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 9), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 638 S., ISBN 978-3-525-36847-3, EUR 89,00
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