In seiner nun veröffentlichten Dissertation wendet sich Marcel Berlinghoff dem Ende der "Gastarbeit" in den westeuropäischen Industriestaaten zu. Ansatzpunkt seiner Studie ist die Tatsache, dass dieses Ende nicht - wie lange Zeit angenommen - durch die Ölpreiskrise von 1973 und die nachfolgende globale Rezession, sondern durch sozial- und innenpolitische Erwägungen bedingt war.
Man kann nur hoffen, dass es gelingt, diese Erkenntnis endgültig zu etablieren. Das gilt umso mehr, als es hier nicht um historische Faktenhuberei geht. Viel schwerwiegender ist nämlich der, von Berlinghoff treffend formulierte Umstand, dass der gerade in Deutschland fest verankerte "Mythos" vom ökonomisch bedingten Anwerbestopp "die Einwanderung in die Bundesrepublik als anachronistisches Überbleibsel der 'Gastarbeiterbeschäftigung' negierte und die Ausgrenzung von Migranten aus der deutschen Gesellschaft lange Zeit legitimierte" (11).
Sicherlich kann man den Urheber dieses "Mythos", den damaligen Bundesarbeitsminister Walter Arendt, für diese fatale Konsequenz nicht verantwortlich machen. Er nutzte vielmehr die Gunst der Stunde, also die Ölpreiskrise, um die vor allem für die Arbeitsmigranten und Anwerbeländer äußerst unpopuläre Maßnahme des Anwerbestopps zu rechtfertigen. Diese überaus stimmige Strategie erklärt wiederum, warum sich dieser "Mythos" so hartnäckig gehalten hat.
Ausgehend von dieser Richtigstellung fragt Berlinghoff nun nach den eigentlichen Ursachen dafür, dass die westeuropäischen Industriestaaten die lange Zeit staatlich geförderte und gelenkte Zuwanderung von Arbeitskräften binnen weniger Jahre durch verschiedene Anwerbe- und Einwanderungsstopps beendet haben. Dabei geht er von zwei Thesen aus, nämlich erstens von der "Entdeckung der Einwanderung" in den einzelnen Anwerbeländern, also dem Umstand, dass die primär ökonomisch betrachtete Ausländerbeschäftigung seit Ende der 1960er Jahre als gesamtgesellschaftliches Problem verstanden wurde, sowie zweitens von der "Europäisierung der Migrationspolitik" (17). Diese sieht Berlinghoff durch drei Aspekte definiert : Erstens als "Ergebnis der institutionellen Angleichung der europäischen Migrationsregime", zweitens als "Prozess dieser Angleichung", angefangen von der Problemwahrnehmung über den Informationsaustausch bis hin zur Durchsetzung restriktiver Maßnahmen, sowie drittens als die Herausbildung von "europäischen Zugehörigkeitsvorstellungen und Identitätsbezügen" (23).
Diese Thesen überprüft er in der Folge anhand der Fallbeispiele Schweiz, Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, in denen die Ausländerbeschäftigung zu Beginn der 1970er Jahre relativ bzw. absolut am umfangreichsten war, die ein unterschiedliches einwanderungspolitisches Selbstverständnis besaßen und die sich hinsichtlich ihres politisches System deutlich voneinander unterscheiden. Diese Auswahl bildet eine solide Basis, zumal der Autor in einem vorangestellten Kapitel die europäische Dimension des "Problems der ausländischen Arbeitnehmer" (41) auslotet, wo auf weitere westeuropäische Industriestaaten Bezug genommen wird.
Methodisch verortet Berlinghoff seine Studie zurecht auf dem Gebiet der "Histoire croisée" und "Neuen Außenpolitikgeschichte" (27), wobei er - diese Kritik sei hier schon vorweggenommen - streckenweise zu sehr einer wiewohl verdienstvollen Nacherzählung politischen Verwaltungshandelns verhaftet ist. Das führt dazu, dass außerstaatliche Akteure wie etwa die Wohlfahrtsverbände, die Migrantenorganisationen sowie die Migranten selbst teilweise nur noch als Objekte erscheinen, auf die der Staat in seinem Bemühen um eine Kontrolle der Zuwanderung reagiert. Auch werden die sozial- bzw. integrationspolitischen Ansätze und Maßnahmen, die es trotz ihrer Unzulänglichkeiten ja auch gegeben hat, nur am Rande erwähnt. Diese Defizite lassen sich aber zugegebenermaßen kaum vermeiden bei einer Studie, deren Schwerpunkt "auf den Versuchen der Steuerung von Migration im Sinne der "immigration control policy" (30) liegt. Auch schmälern sie nicht den Erkenntniswert dieser vergleichenden Untersuchung: Dass nämlich trotz sehr unterschiedlicher nationaler Voraussetzungen und Gegebenheiten alle drei Staaten im Laufe der Zeit zu ähnlichen Problemwahrnehmungen und Lösungsansätzen gelangt sind, die am Ende zu ähnlichen Konsequenzen geführt haben. Dabei kam der Schweiz, wo die "Entdeckung der Einwanderung" schon in den 1960er Jahren erfolgte und sich die gesellschaftliche Abwehr in Form von populistischen "Überfremdungsinitiativen" manifestierte, eine Vorreiterrolle zu. Als "Musterland der Migrationsbegrenzung" (75) diente sie den anderen Einwanderungsländern in dem Maße als positiver Bezugspunkt, in dem deren eigene Kosten-Nutzen-Bilanz der Ausländerbeschäftigung ungünstiger wurde und die gesellschaftliche Dimension der Zuwanderung in den Vordergrund rückte.
Dabei zeichnet Berlinghoff sehr plastisch nach, wie genau die Bezugnahme auf die anderen Anwerbeländer und der Erfahrungs- und Wissenstransfer zwischen ihnen auf bi-, inter- und transnationaler Ebene vonstatten ging. Dies geschah in Form von Fachtagungen, Regierungskonferenzen, Studienfahrten und Botschaftsbefragungen, wobei als Akteure auch die OECD, der Europarat, die Internationale Arbeitsorganisation, die EG-Kommission und der Europäische Ministerrat in Erscheinung traten. Wie wichtig hierbei der informelle Austausch war, zeigt er am Beispiel des vom Bundesarbeitsministerium im Frühjahr 1972 organisierten "Erfahrungsaustauschs über Fragen der ausländischen Arbeitnehmer", einer nichtöffentlichen Regierungskonferenz, auf der fast alle relevanten staatlichen Akteure vertreten waren. In diesem geschützten Raum fand - einem Vertreter der französischen Delegation zufolge - insbesondere bei den Flurgesprächen zwischen den Vorträgen ein äußerst produktiver Meinungs- und Gedankenaustausch statt. Dieser bezog sich vornehmlich auf Möglichkeiten der Kontrolle und Begrenzung der Zuwanderung und bildete für Frankreich - so Berlinghoff - den "Auftakt des verstärkten internationalen Informationsaustausches" (308).
Insgesamt belegt Berlinghoff überzeugend seine Thesen von der "Entdeckung der Einwanderung" und der "Europäisierung der Migrationspolitik", wenngleich die zweite These im Hinblick auf eine "Europäisierung als Ergebnis" (357) etwas hochgegriffen oder zumindest missverständlich ist. Unbestritten ist sicherlich die Tatsache, dass der gemeinsame Erfahrungsaustausch zu einer Erweiterung des Maßnahmenrepertoires im Umgang mit der zunehmend als problematisch empfundenen Anwerbung, Zuwanderung und Niederlassung von Arbeitsmigranten und ihren Familien geführt hat. Auch fühlten sich die Anwerbeländer durch diesen Austausch in ihrer zunehmend restriktiven Politik bestätigt. Dieser migrationspolitischen Konvergenz standen allerdings weiterhin sehr verschiedene Konzepte von Staatsangehörigkeit und ein sehr unterschiedliches Selbstverständnis als (Nicht-)Einwanderungsland gegenüber. Zudem waren die auf ihre Souveränität pochenden europäischen Nationalstaaten keineswegs gewillt, die von der EG-Kommission angestrebte Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik zu unterstützen - wie Berlinghoff ja selbst darlegt.
Was die dritte Dimension seiner These von der Europäisierung, also der Herausbildung "kollektiver europäischer Identitätsbezüge" (67) betrifft, so zeichnet Berlinghoff eindrücklich nach, wie die verstärkte Zuwanderung vor allem aus der Türkei und den ehemaligen französischen, belgischen, niederländischen und britischen Kolonien im Bemühen um Zuwanderungskontrolle und angesichts der europäischen Binnenmigration bzw. Freizügigkeit zu einer erweiterten Definition des "Europäers" geführt hat. Diese schloss nun auch die Südeuropäer mit ein, die bislang zusammen mit Türken und Maghrebinern der Kategorie der "Südländer" angehörten. Letztere wiederum sahen sich nun der Kategorie der "Außereuropäer" zugeordnet, die nur noch sehr bedingt nach Europa einwandern konnten. Dabei stellten die Türken einen Sonderfall dar: Ihnen wurde im Kontext des Kalten Krieges und des Assoziationsabkommens der Türkei mit der EWG von 1963 der Weg nach Europa geebnet, dann aber angesichts des großen Zuwanderungspotenzials und des hier noch gegebenen migrationspolitischen Handlungsspielraums wieder verschlossen; das hat wesentlich zur gesellschaftlichen Ausgrenzung der bereits in Europa lebenden Türken beigetragen.
Mit seiner fundierten, den aktuellen Forschungsstand berücksichtigenden und trotz einiger Längen sehr gut lesbaren Untersuchung leistet Berlinghoff einen wertvollen Beitrag zur jüngeren europäischen Migrationsgeschichte. Zu wünschen bleibt lediglich eine zeitliche Weiterführung der Arbeit über 1974 hinaus.
Marcel Berlinghoff: Das Ende der ›Gastarbeit‹. Der Anwerbestopp in Westeuropa 1970-1974 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 27), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 403 S., ISBN 978-3-506-77668-6, EUR 49,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.