Igor Narskij: Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit - Wissenschaft als "Roman", Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 621 S., 98 Farb-, 98 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-20977-3, EUR 59,90
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"Narskijs Narcissus-Projekt" nannte eine Kollegin "Fotografie und Erinnerung" (15); der Verlag bezeichnet das Werk als "bizarres Geflecht". Ohne Zweifel lässt sich Igor Narskijs über 600 Seiten starkes Elaborat nur schwer in starre Kategorien fassen: Vor allem das Experimentieren mit der Darstellungsform lässt das Buch zu einer Mischform von wissenschaftlicher Abhandlung, Memoiren-Literatur und Coming-of-Age-Roman geraten. Dabei werden autobiografische Elemente, Beobachtungen in Forschung und Forschungslandschaft, wissenschaftliche und literarische Beschreibungen sowie Fakten und künstlerische Elemente kombiniert (16). Der russische Historiker selbst bezeichnet sein Werk als Ego-Dokument (598), von "Wissenschaft als Roman" spricht wiederum der Untertitel. Auch der Begriff "Fototext" erscheint gerechtfertigt (352): Das Buch enthält zahlreiche Bilder des Protagonisten und seiner Familie, die an einigen Stellen kollagenartig zu einem kommentierten Fotoalbum zusammengestellt wurden.
Nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen, sondern auch mehrere Interessengelagen werden vermengt: Von seiner eigenen Familiengeschichte ausgehend, möchte Narskij Einblick in Alltags- und Mentalitätsgeschichte der Sowjetunion geben sowie die Möglichkeiten und Grenzen der praktischen Verwendung von Bildern als historische Quellen sondieren. Am Anfang steht ein Foto des Autors als Kind aus dem Jahr 1966, das Narskij zum archimedischen Punkt seiner Ausführungen macht. Dies soll es ermöglichen, die zentrale Frage nach der Reflexion "des Forschers im Hinblick auf das eigene Handeln und die Auswirkungen des eigenen 'Ichs' auf den Verlauf und den Ausgang des Forschungsprozesses" zu problematisieren (16). Fragestellungen, Quellenübersichten, Querverweise und Fußnoten, die üblichen "wissenschaftlichen Rituale" also (15), sucht man vergeblich. Ungewöhnlich ist auch die (recht unnarzisstische) Aufforderung des Autors, sich des Textes zu bedienen und nur die Teile zu lesen, die das Interesse erwecken.
Trifft man die Entscheidung, alles und in chronologischer Reihenfolge zu rezipieren, so gliedert sich das Buch in drei große Kapitel, die wiederum in relativ selbstständige Teilbereiche oder Themenblöcke zerfallen. Als roter Faden fungiert jeweils die Erinnerung Narskijs an seine Kindheit, unterstützt durch Überlegungen zur Fotografie als historischer Quelle und das Forschungstagebuch des Autors. "Autobiografisches Kaleidoskop" nennt sich der erste Abschnitt: Narskijs kindliche Sommerurlaube bei den Großeltern in Gorkij (heute: Nischnij Nowgorod) und die dort entstandene Fotografie stellen die Weichen für den weiteren Verlauf des "Wissenschaftsromans". Schildert Narskij auf der einen Seite seine glückliche Kindheit bei Oma und Opa, so zwingt ihn seine wissenschaftliche Ausbildung bei aller betonten Subjektivität dennoch dazu, die Entwicklungs- und Gebrauchsbedingungen des untersuchten Lichtbilds herauszuarbeiten. Inhaltsanalyse sowie psychoanalytische und strukturalistisch-semiotische Auswertungsmethoden von Fotografien werden zusammen mit Überlegungen aus der visuellen Soziologie vorgestellt, wobei nicht gänzlich klar ist, welchen Schwerpunkt der Autor hinsichtlich seiner eigenen Untersuchung setzt bzw. empfiehlt; nur von Erwin Panofskys ikonografisch-ikonologischer Analyse nimmt er aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive dezidiert Abstand (89). Das zunehmende Interesse der Historiografie an visuellen Quellen, so Narskij, sei damit verbunden, dass man sich von der Sozialgeschichte der Makroprozesse ab- und der Kulturgeschichte und somit einer Mikrowelt des Alltags, der Wahrnehmungen, der Erfahrungen sowie der Erinnerungen der viel zitierten "kleinen" Leute zugewandt habe (34).
Im zweiten Teil des Buchs - "Nachforschungen, Einbußen Funde (Unvollendeter Detektiv)" - liefert Narskij Informationen zu Kindheit und Alltag in der Sowjetunion. Teil drei wiederum widmet sich unter der gleichnamigen Kapitelunterschrift Fragen nach "Familienfotos und Familiengedächtnis". Hier ist es besonders das autobiografische Gedächtnis und sein materieller Träger, das familiäre Fotoalbum, welches Narskij theoretisiert, indem er es als "soziales Produkt der Gegenwart" und als eine "Antwort auf die Kompliziertheit und wachsende Mobilität der modernen Gesellschaften" sieht (589). Eine Art Bedienungsanleitung für alle, die durch das neuartige Genre überfordert werden ("Für jene, die es eilig haben"), rundet das Werk schließlich ab.
Narskijs autobiografische Erinnerungen zehren von ihrer außergewöhnlichen Normalität und ihrer gleichzeitigen spezifisch sowjetischen Besonderheit. "Die armen, kleinbürgerlichen Juden Chasanow und Rywkin aus dem jüdischen Ansiedlungsrayon verschwägerten sich mit den reichen Kaufmannsjuden Gesenzweij, mit dem polnischen katholischen Adelsstand Puchalski, mit den russisch-orthodoxen Priestern Bulgakow und Narskij aus Zentralrussland, mit den Kosaken Scheremetjew aus dem Fernen Osten und mit den Bauern Korschuchin aus dem Ural," beschreibt der Autor etwa seinen Familienstammbaum (599). Themen wie Alltag und Alltagsantisemitismus in der UdSSR werden thematisiert, aber auch erste sexuelle Kontakte und Feierabende mit deutschen Kollegen und Kolleginnen, bei denen Bier und Currywurst nicht fehlen dürfen. Manchmal wird der Ton auch etwas zu jovial, wenn Narskij einen Aufbruch in der sowjetischen Frauenmode moniert, der aber "leider [...] bei Weitem nicht immer dem Auge" geschmeichelt habe (484).
Narskij gräbt, wo er steht - und setzt sich bereits präventiv gegen Kritik aus der Kollegenschaft zur Wehr. Weder Wissenschaftlichkeit noch Objektivität, so der Historiker, beanspruche er (357), seine emotionale Eingebundenheit in das Projekt stehe außer Frage (155). "Ich nehme an, dass diese Absicht auf den größten Widerspruch stoßen wird", schreibt er (16). Ungewöhnlich ist die Betonung des subjektiven Zugangs in der Tat: Narskij argumentiert aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive und betreibt Feldforschung in der eigenen Autobiografie, ohne daraus verallgemeinerbare Behauptungen für die Geschichte der UdSSR liefern zu wollen (und zu können). Ein wenig erinnert der "Wissenschaftsroman" von der Aufmachung her an W. G. Sebalds "Austerlitz", wobei "Fotografie und Erinnerung" eine ähnlich dichte Verschränkung von Text und Bild zu empfehlen gewesen wäre. Auf eigenen Seiten abgebildet, wirkt es ein wenig so, als ob die Fotografien "outgesourct" worden seien. Dennoch ist Narskijs Experiment ein äußerst interessanter und überaus lesenswerter Beitrag zur Kulturgeschichte.
Ina Markova