sehepunkte 13 (2013), Nr. 10

Michael Havlin: Die Rede von der Schweiz

Die Studie beruht auf einem Forschungsprojekt, das unter der Leitung von Christian Prunitsch (Dresden) entstand und in die Nachwuchsforschergruppe "Kleine Kulturen" bei der Volkswagen Stiftung sowie in die Strukturen des Instituts für Slavistik der Technischen Universität Dresden eingebunden war. Ausgehend von einem erweiterten diskursgeschichtlichen Begriff untersucht Michael Havlin die Genese und Entwicklung des Diskurses über die Vorbildfunktion der helvetischen Eidgenossenschaft als eines Konzeptes zur Lösung der Nationalitätenfrage in der Tschechoslowakei (ČSR) in der Zeitspanne 1918-1938. Die Vorbildfunktion der Schweiz im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wird mit einbezogen, und ein Exkurs zu Auswirkungen und Ablehnung des helvetischen Modells in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert die Arbeit. Wie der Autor betont, wurde diese Thematik von der tschechoslowakischen Nachkriegshistoriografie ignoriert und die Erforschung des "Schweizer Konzeptes" vor allem in Verbindung mit der Rolle der Deutschen in den böhmischen Ländern als eines faschistischen "trojanischen Pferdes" beschränkt (19).

Havlin greift verschiedene parallele Diskurslinien auf: die Zeitgenossen sprachen von einer "tschecho-slowakischen Schweiz", einer "zweiten Schweiz", einer "mitteleuropäischen Schweiz", einer "slawischen Schweiz", einer "neutralisierten Tschechoslowakei", einer "kantonalen Tschechoslowakei" oder von einer "Verschweizerung" bzw. "Schweizerisierung" der ČSR (25). In der Arbeit werden die Diskurse sowohl der Sudetendeutschen als auch der Tschechoslowaken untersucht, die von den einzelnen Akteuren unterschiedlich rezipiert und mittels der Medien gesteuert und instrumentalisiert wurden. Das Konzept der tschechoslowakischen Schweiz konnte zum Beispiel von Seiten der Sudetendeutschen als ein "niederträchtiges Lügenelaborat" betrachtet werden, mit dem die Pariser Friedenskonferenz manipuliert worden sei. Von Seite der Tschechoslowaken wurde es als eine "versöhnende überstaatliche Konzeption" oder als Modell einer "zweiten" oder "slawischen" Schweiz wahrgenommen (25 f.).

Der Autor zeichnet die Anfänge der Schweiz-Diskurse bereits für das 19. Jahrhundert sowie die Vorbildfunktion der Schweiz nach. Von František L. Rieger und anderen Persönlichkeiten der tschechischen politischen Szene in Böhmen wurde die Schweiz als "paradigmatisches Kleinheitsmodel" perzipiert (66). Havlin zufolge wurde während des Ersten Weltkriegs die Vorbildfunktion der Schweiz aufgrund der Zensur und Überwachung der politischen Öffentlichkeit kaum diskutiert. Auf deutscher Seite stiegen die Hoffnungen auf eine Teilung Böhmens in einen deutsch- und tschechischsprachigen Teil, und ab dem Jahr 1917 unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht auf einen direkten Anschluss an Österreich. Nur der österreichische Sozialist Karl Renner strebte weiterhin eine Lösung auf der Grundlage des Schweizer Kantonmodells an. In Böhmen berief man sich auf das föderalistische Konzept der Habsburgermonarchie. Von dem im Exil lebenden Tomáš Garrigue Masaryk wurde das Recht der kleinen Nationen auf Eigenstaatlichkeit proklamiert: Aufgrund der multiethnischen Struktur der zu gründenden Tschechoslowakei sollte die Republik eine "zweite 'kontinentale Schweiz'" werden (89).

In der Zeit der Gründung der ČSR wurde das Schweiz-Modell unterschiedlich rezipiert und die verschiedenen Stränge des Diskurses von Sudetendeutschen wie auch von Tschechoslowaken politisch instrumentalisiert. Dem Konzept "einer höheren Schweiz" zufolge, das der Verteidigungsminister Václav Klofáč vertrat, sollten die Teile des deutsch bewohnten Nordböhmens gegen die Lausitzer Gebiete ausgetauscht werden. Man hielt jedoch weiter an der grundlegenden Konzeption des tschechoslowakischen Staates sowie an der Absicht fest, im neuen Staat die "unsrige Nationalität" zu stärken (103). Aufgrund dessen wurde der Ausdruck einer "höheren Schweiz" im sudetendeutschen Diskurs sehr früh als Synonym für die "tschechoslowakische Politik des Herrenvolkes" verwendet und durch die im so gennannten "Beneš-Memorandum" oder "Memorandum III" - der dritten Denkschrift Le probème des Allemads de Bohême aus der Sammlung der tschechoslowakischen Denkschriften an die Pariser Friedenskonferenz - festgeschriebenen, aber von der tschechoslowakischen Regierung nicht eingehaltenen Versprechungen einer "tschechoslowakischen Schweiz" für die revisionistische Ziele der Sudetendeutschen Partei systematisch im Ausland ausgenutzt (182).

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Rezeption des Schweiz-Diskurses in den 1920er Jahren. Diese verlief in der ČSR, insbesondere wegen der Kantonalverfassung, ernüchternd und ablehnend. Für das "Belgische Muster" machte sich hingegen selbst Präsident Masaryk stark, da sich laut Cyril Dušek, dem tschechoslowakischen Gesandten in der Schweiz, Belgien als einheitlicher Staat besser als Modell für die Tschechoslowakei eigne. Diese Diskussion über ein neues Staatsmodell zerstörte jedoch alle Hoffnungen der Sudetendeutschen auf eine "Schweizerisierung" der ČSR. Die Schweiz wurde von einem Identitäts- zu einem Alteritätsmodell, denn nicht die Gemeinsamkeit beider Staaten, sondern deren Unterschiede wurden thematisiert (210).

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre lebte der Schweiz-Diskurs infolge der sich verändernden geopolitischen Lage in Europa wieder auf und erreichte seinen Höhepunkt. Auch hier lässt sich eine große Bandbreite des Schweiz-Modells feststellen. Das Konzept einer "tschechoslowakischen Schweiz" wurde von der Sudetendeutschen Partei als Tarnung des angestrebten Anschlusses an das Dritte Reich ausgenutzt, so dass die tschechoslowakische Regierung und die Bevölkerung kein Interesse an der "Schweizerisierung" zeigten. Die "Schweizerisierung" wurde lediglich als Kantonalisierung oder Neutralisierung der ČSR perzipiert, und in diesem Sinn wurde das Konzept als "Konfliktlösungsmuster" für die multiethnische ČSR auch in der internationalen Diplomatie diskutiert (315).

Nach 1938 wurde das helvetische Modell im Zusammenhang mit der administrativen Aufteilung der Nachkriegstschechoslowakei sowohl von Tschechen als auch von Sudetendeutschen im Exil erneut diskutiert, jedoch sowohl vom Exilpräsidenten Edvard Beneš als auch vom tschechoslowakischen Widerstand abgelehnt. Wie die Studie zeigt, wäre hier eine Lösung zur Aufrechterhaltung der Multiethnizität der ČSR vertan und Deutsche sowie Ungarn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieben. Die nicht umgesetzte Schweiz-Konzeption wurde schließlich von der Sudetendeutschen Landsmannschaft zur Konstruktion eines Opfernarrativs genutzt.

Havlin demonstriert die große Bandbreite der Schweiz-Modelle und die jeweiligen Phasen ihres Auflebens bzw. Ablebens sowie die Peripetien des Schweiz-Diskurses. Es muss jedoch angemerkt werden, dass überwiegend die "tschechischen Tschechoslowaken" in Betracht gezogen werden. Die slowakische Rezeption des Schweiz-Diskurses wird mit Ausnahme von Milan Hodža weitgehend ausgelassen (121). Interessant wäre zum Beispiel die Frage, ob es Anknüpfungspunkte an das Konzept der "neutralisierten Slowakei", das der spätere kurzzeitige Außen- und Innenminister des Slowakischen Staates Ferdinand Ďurčanský Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre entwickelte, gegeben hat. Genauso fehlt eine Darstellung der Rezeption des Schweizer Modells durch die Vertreter der ungarischen Minderheit in der ČSR.

Rezension über:

Michael Havlin: Die Rede von der Schweiz. Ein medial-politischer Nationalitätendiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1938 (= Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen; Bd. 8), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, 447 S., ISBN 978-3-631-60927-9, EUR 69,80

Rezension von:
Stanislava Kolková
Herder-Institut, Marburg
Empfohlene Zitierweise:
Stanislava Kolková: Rezension von: Michael Havlin: Die Rede von der Schweiz. Ein medial-politischer Nationalitätendiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1938, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 10 [15.10.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/10/24127.html


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