In der schnelllebigen Zeit der Trends und "turns" ist es fast verwegen, ein Buch zu besprechen, das zwar noch kein ganzes Jahrzehnt alt ist, aber doch schon vor einigen Jahren publiziert wurde. Seine Aktualität ist jedoch augenfällig, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Protestmarschs Asylsuchender gegen die bayerische Asylpolitik, der im September 2013 von der Polizei in München abrupt beendet wurde.
Der hier vorzustellende Sammelband beruht auf einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts in London, die 2005 stattfand und aus interdisziplinärer und transnationaler Perspektive Demonstrationen und Protestmärsche seit dem 19. Jahrhundert untersucht. Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil werden grundlegende Ansätze verschiedener Disziplinen zu dem Thema diskutiert: der Aufsatz von Stephen Reich und Clifford Stott erforscht die Psychologie, David Gilbert die Geografie und Dieter Rucht die Soziologie von Protestmärschen. Der zweite Teil widmet sich dem langen 19. Jahrhundert: Pia Nordblom analysiert das Hambacher Fest, Hugh LeCaine Agnew Demonstrationen in Böhmen im 19. Jahrhundert als Teil der Selbstvergewisserung der Nation. Birgitta Bader-Zaar stellt die Proteste der Suffragetten zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Großbritannien, den USA, Deutschland, Österreich und Frankreichs ins Zentrum ihrer Überlegungen. Der dritte Teil ist der Zwischenkriegsperiode vorbehalten: Adam R. Seipp vergleicht die "Politik der Straße" in München und Manchester von 1917 bis 1921, Matthias Reiss' Aufsatz widmet sich den Demonstrationen von Arbeitslosen in Großbritannien in den 1920er und 1930er Jahren, Sven Reichardt zeigt die Dimension und die Instrumentalisierung der Gewalt anhand faschistischer Märsche in Italien und in Deutschland vor der "Machtergreifung". Der vierte Teil konzentriert sich auf urbane Fallbeispiele wie Zürich im 19./20. Jahrhundert (Christian Koller), Washington D.C. in den 1960er Jahren (Simon Hall), Belgrad und Sofia im Winter 1996/1997 (Nikola D. Dimitrov) und die "marching season" des Oranierordens im nordirischen Portadown (Neil Jarman). Der fünfte Teil widmet sich zeitgenössischen Entwicklungen und vergleicht die Friedensbewegung in Großbritannien und Deutschland von 1958 bis 1964 (Holger Nehring), untersucht Spezifika neonazistischer Märsche in Deutschland (Fabian Virchow) und die französische Protestbewegung (Danielle Tartakowsky), wobei Paris seine historische Führungsrolle in der Geschichte von Demonstrationen mittlerweile eingebüßt hat, da der Protest ebenso in anderen französischen Städten oder bei europäischen Themen in Straßburg oder Brüssel stattfindet. Alle Aufsätze sind außerordentlich lesenswert, eine Auswahlbibliografie und ein Index runden das Werk ab.
Das Buch ist im schönsten Sinne des Wortes ein Augenöffner und bei der Lektüre stellt sich einem nur die Frage, warum ein so faszinierendes Thema der Aufmerksamkeit der Historiker so lang entgangen ist, obwohl es doch in Geschichte und Gegenwart weltweit in diversen lokalen Ausprägungen eine so wichtige Rolle spielt: sowohl in Demokratien als auch Diktaturen, in linken wie in rechten Massenbewegungen dienten Kundgebungen und Protestmärsche als politisches Mittel, ganze Regime stürzten über Massenprotest, der in den Straßen begann. Gleichzeitig ist es ganz dezidiert ein Thema der neueren und neuesten Geschichte: Nahrungsmittelkrisen und Arbeitslosigkeit hatten natürlich schon früher zu Protesten der Betroffenen geführt, ebenso gehören Bauernaufstände in die Vorläufertradition. Doch erst mit der Industrialisierung und der Geburt der Massengesellschaft erreichte der Protest der Straße seine politische und soziale Sprengkraft, da die nun häufig überregionalen Ereignisse von den Regierungen nicht leicht unterdrückt werden konnten. Erst ab Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts gelang es den Protestierenden nicht zuletzt dank moderner Transport- und Kommunikationsmittel eine Öffentlichkeit herzustellen. Die Mitwirkung einer größeren Anzahl von Menschen, die Aneignung des öffentlichen Raumes, die Verortung meistenteils in Städten und die Interaktion mit der Gesellschaft sind gemeinsame Kennzeichen der Protestmärsche. (4)
Während die Masse insbesondere bei einem ihrer ersten Analytiker, Gustave Le Bon, negativ konnotiert war, der sie als weibisch und wankelmütig schmähte, wird heute stärker die Handlungsmacht betont, die die Masse den Menschen verleiht. Höchst interessant ist auch die Mikrogeografie des Protests. Häufig dienten Plätze von nationaler Bedeutung als Versammlungsorte, die, um die Hingabe der Protestierenden an die Sache zu manifestieren, nicht selten durch physische Anstrengungen erreicht werden mussten - etwa durch tagelange Fußmärsche. Nach der Demobilisierung der 1920er Jahre bewegte sich ein Treck kriegsversehrter Blinder durch Großbritannien, um der Regierung ihre Forderungen vorzutragen, im Jarrow March aus Nordostengland Richtung London wurde gegen Arbeitslosigkeit und Armut protestiert. Die Assoziation des Marsches als "Kreuzzug" oder der Teilnehmer als "Pilger" taten ein übriges auf dem Weg der Generierung von Öffentlichkeit, oder um es mit den Worten der Labour-Politikerin Ellen Wilkinson zu sagen "of placing one's case before the citizens of the country" (159). Für Frauen war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Schritt, als Aktivistinnen die Straße für ihre Forderungen nach Partizipation zu erobern und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wurden sie doch traditionell entweder mit revolutionären Aufrührerinnen (etwa der Revolution von 1848/9) oder mit Brandstifterinnen (der Pariser Kommune 1871) oder gar mit Prostituierten assoziiert (106).
Mitgeführte Abzeichen, Flaggen, Symbole und Lieder der Protestierenden als "kulturelle Codes" sowie der gewählte Zeitpunkt des Protests (etwa in Erinnerung an ein nationales Ereignis oder durch die Erfindung eigener Traditionen) bieten reichhaltiges Analysematerial auch für Ethnologen und Kulturwissenschaftler. Für das im 19. Jahrhundert neue Phänomen gab es ursprünglich keine Bezeichnung: so ist stets vom "Hambacher Fest" die Rede, obwohl es sich eigentlich um einen Marsch und eine Kundgebung handelte - doch selbst im Grimm'schen Wörterbuch fehlte noch 1860 das Wort "Demonstration" (67). Im Tschechischen leitete sich der generische Begriff vom historischen Ort Tábor, dem Treffpunkt der Hussiten von 1419, ab, der damit ein Synonym für die Kundgebungen wurde (102).
Revolutionen sind seit 1789 der Kampf um Arbeiter- und Bürgerrechte, um Gleichstellung und Partizipation in der Gesellschaft, die Friedens- und Studentenbewegung, Stuttgart 21, Attac und G-8-Proteste, das Plebiszit der Straße - das alles ist letzten Endes mit der organisierten Form öffentlichen Protests und einer neuen Form politischer Kommunikation außerhalb von Volksvertretungen verbunden. Der Rezensentin fallen aus ihrer eigenen Expertise auf Anhieb zwei weitere Themen ein, die eine Untersuchung lohnten: die vom NS-Regime inszenierten (und damit das plebiszitäre Element pervertierenden) sogenannten Prangermärsche, bei denen politische Gegner, Juden oder Frauen wegen "verbotenen Umgangs" mit "Fremdarbeitern" zur Demütigung durch die Straßen getrieben wurden, ferner die Protestkundgebungen anlässlich der Urteile zur Ahndung von NS-Verbrechen, die in der frühen Nachkriegszeit oft Zehntausende Menschen mobilisierten, die gegen Freisprüche oder zu niedrige Strafmaße bei NS-Tätern demonstrierten.
Kurz: der Herausgeber und die Autorinnen und Autoren des Bandes eröffnen mit ihren Fallstudien ein fantastisches Forschungsfeld. Die reichhaltigen Anregungen verdienen eine breite Leserschaft. Hinsichtlich der späten Rezeption durch die Rezensentin sei an Wilhelm Raabe erinnert, der schon im 19. Jahrhundert der Nachhaltigkeit das Wort redete: "Man muss Bücher schreiben, die gewinnen, wenn das Geschlecht, das sie später liest, andere Röcke und Hosen trägt."
Matthias Reiss (ed.): The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century (= Studies of the German Historical Institute London), Oxford: Oxford University Press 2007, XIII + 367 S., 7 Kt., ISBN 978-0-19-922678-8, GBP 63,00
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