Die heutige "Münchener Sicherheitskonferenz", der jährliche Aufgalopp der sicherheitspolitischen Elite der Welt, begann als "Wehrkundetagung" der westlichen Welt in den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die nach dem Zweiten Weltkrieg führende sicherheitspolitische Zeitschrift in Deutschland war die "Wehrwissenschaftliche Rundschau" und noch heute lehrt die Marine der Bundeswehr ihren Offiziernachwuchs im "Wehrgeschichtlichen Ausbildungszentrum" die Geschichte der deutschen Marinen in ihren Zeitläuften. All diesen Ereignissen und Orten ist die Silbe "Wehr" gemein. Damit drückt sich bis heute ein Verständnis aus, dass sowohl die heute allgemein anerkannte Militärgeschichte wie auch die Beschäftigung mit sicherheitspolitischen Themen - ebenso eng verknüpft mit der Militärgeschichte - beinahe traditionell in einem thematischen Zusammenhang gesehen wurden oder vielleicht auch noch werden.
Ausgehend von der Entgrenzung des Krieges, wie sie in Europa im Ersten Weltkrieg erstmals unübersehbar auftrat, entwickelte sich in Deutschland eine wissenschaftliche Disziplin, die es so vorher noch nicht gab und die der Autor "aus der Fußnote in den Titel" (15) holt: die "Wehrwissenschaften". Dem heute so sperrig wirkenden Begriff widmet sich Frank Reichherzer in seiner 2011 abgeschlossenen und 2012 erschienenen Dissertation und zeichnet schon im Titel nach, dass er seine Ursachen wohl in der "Bellifizierung der Gesellschaft" haben muss.
Die Wehrwissenschaften waren dabei eine "Wortschöpfung der Zwischenkriegszeit" und anfänglich weder klar definiert, noch konnte ihm eine Gruppe von Akteuren zugewiesen werden. Diese Unschärfe will der Verfasser in seinem Werk auflösen und dieses akademische Tätigkeitsfeld nachzeichnen. Das wehrwissenschaftliche Denken der Zeit ist geprägt von der "Grundannahme der Zeitgenossen, ... dass der Krieg nicht mehr ein isolierter militärischer Akt sei, sondern die gesamte Gesellschaft erfasste." Daraus folgte das "Streben der Zeitgenossen nach Vernetzung und Integration von Wissen" - was sich schließlich in der "Beratung und Ausbildung von Entscheidungsträgern" niederschlug. Hierbei besaß z.B. der Historiker Gert Oestreich als Assistent am Berliner Institut für Wehrpolitik eine exponierte Rolle, die sich in zahlreichen programmatischen Schriften zur Bedeutung der Militärgeschichte und Wehrpolitik niederschlug. Eine solche "Vermittlung von Wissen für und über den Krieg" zielte primär darauf ab, den Wehrwillen und die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung von Kindes Beinen an zu stärken. "Die Klammer ... bildet die Idee der Ausrichtung der Gesellschaft auf den Krieg - die Bellifizierung der Gesellschaft im Allgemeinen wie der Wissenschaft im Speziellen." (17-19) So gesehen behandelt der Verfasser Wissenschaftsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege am Beispiel einer heute wenig bekannten Disziplin, die geradezu sowohl zur Stimmung der deutschen Bevölkerung im Nach-Versailles-Zeitalter ebenso passte, wie zur Kriegsvorbereitung des nationalsozialistischen Deutschlands; es entwickelte sich somit ein "Gesamtkonzept zur umfassenden Wehrhaftmachung der Nation".
Der umfassende Ansatz der Wehrwissenschaften, disziplinübergreifend alles heranzuziehen, was der Wehrhaftmachung dienlich sein könnte, lässt es nicht zu, mit disziplinären Denkschemata das Thema aufzubrechen. Vielmehr handelt es sich um eine "hybride" Disziplin. Um sie zu verstehen muss man neben vielen anderen Ansätzen auch ideengeschichtliche Perspektiven und historische Prozesse als Instrumente heranziehen, um ihre Struktur, Situation, Umsetzung und ihren Ausblick verstehen zu können (24-25). Und wenngleich das Fach als eine Wissenschaftsdisziplin des Zeitalters der Weltkriege erscheint, muss festgehalten werden, dass es eben nicht 1945 von der akademischen Bildfläche verschwand, sondern darüber hinaus Transformationen und Kontinuitäten erlebte (siehe obige Eingangsbemerkung). - Ungeachtet dessen kann aber ebenso angenommen werden, dass gerade die Neuverortung der Militärgeschichte als Teildisziplin einer erweiterten Geschichtswissenschaft, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland auch vom ehemaligen Militärgeschichtlichen Forschungsamt und hier insbesondere von Hans Meier-Welcker und Manfred Messerschmidt begründet wurde, den Niedergang der Wehrwissenschaften einleitete - die angesprochen Kontinuitäten waren demnach wohl eher ein letztes Aufbäumen.
Dass gerade die militärischen Ausbildung insbesondere an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg bis weit in die 1990er Jahre zahlreiche Jahresarbeiten der Generalstabsausbildung zutage förderte, die geradezu wehrwissenschaftliche Themenstellungen besaßen, ist darauf zurückzuführen, dass hier die Beschäftigung mit militärischer Führung in einem künftigen (Atom-)Krieg eine umfassende Erörterung der Bedingungen des Krieges erforderte. Demzufolge kann man in weit mehr als den drei vom Verfasser genannten Jahresarbeiten wehrwissenschaftliche Themenstellungen erkennen (27).
In drei Kapiteln, die einfacher nicht benannt werden können, untersucht Reichherzer zuerst die "strukturellen Entstehungsbedingungen" mit der programmatischen Überschrift "Wehrwissenschaften tut not!". Er schließt an, wie sich die Wehrwissenschaften als Forschungsfeld und -disziplin formiert haben: "Kennwort Wehrwissenschaften". Zuletzt beschreibt er den gerade in den 1930er Jahren stattfindenden Vormarsch dieses Faches in der deutschen Universitäts- und Forschungslandschaft: "Wehrwissenschaft marschiert", um einen Ausblick anzuhängen, der der Zeit nach dem Zusammenbruch gewidmet ist: "Abschied vom Krieg?" Die weiterhin gewählten Kapitelüberschriften und die darunter firmierenden Unterkapitel zeichnen damit den Weg einer sich neu etablierten Wissenschaft, die ihre Geburt der Niederlage in den Schützengräben zu verdanken hatte.
Zuvor jedoch hatten Krieg und zivile Gesellschaft über ihr Verhältnis zu einander neu zu verhandeln. Die Entgrenzung militärischen Handelns, wie sie aus der Totalisierung zwischen 1914 und 1918 resultierte, führte nicht nur zum Frieden von Versailles, sondern auch zur Verwissenschaftlichung aller Untersuchungen zum Militär. Der "Stimulus", den der Zusammenbruch auslöste, vereinte dazu nach 1919 aufkommende wissenschaftliche Trends und revolutionierte die "Entwicklungstendenzen im Wissenschaftssystem der Moderne" dahingehend, dass alle "Lebens und Handlungsbereiche mit wissenschaftlichen Erkenntnissen" durchdrungen wurden (76-77). Die Tiefgründigkeit, wie sich ausgehend von den späten Jahren des 19. Jahrhunderts die Moderne ihren Weg brach, suchte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg das neue Phänomen des umfassenden Krieges ein wissenschaftliches Untersuchungsfeld verschiedener Disziplinen, das zugleich von Vernetzung, Politisierung und Verwissenschaftlichung geprägt wurde. So gesehen lassen sich die Wehrwissenschaften - im Plural gesprochen - nicht in eine Schublade packen, sie waren eben nicht singuläre Disziplinen wie die Alte Geschichte oder die Volkswirtschaft. "Die Verwissenschaftlichung [des Wehrwesens] zeigt sich militärintern in einer an wissenschaftlichen Maßstäben ausgerichteten Generalstabsausbildung, die im großen Stil mit der Neugründung von Militär- und Kriegsakademien am Anfang des 19. Jahrhunderts begann." (81) - Fraglich ist jedoch, ob es sich im Sinne der damaligen Akteure um eine Verwissenschaftlichung der militärischen Ausbildung oder lediglich eine Professionalisierung des militärischen Handwerks handelte. - In der Zwischenkriegszeit setzte sich dieser Trend mit einer ausweitenden Forschungslandschaft fort. Ursächlich dafür waren sicherlich die Massen von Reserveoffizieren, die ebenfalls akademische Ausbildung besaßen und nunmehr auch wissenschaftliche Diskurse zum Ersten Weltkrieg betreiben wollten.
In seinem Fazit (403-426) komprimiert der Autor noch einmal die ausführlichen und leider nicht immer eingängigen Beschreibungen der gesamten Arbeit. Es sticht jedoch heraus, dass es für den Autor nicht allein die Militärs waren, die die Wehrwissenschaften zu einer gesamtgesellschaftlich relevanten Wissenschaft gemacht hatten. "Die Gesellschaft beteiligte sich freiwillig an den Debatten über Krieg und zeichnete sich durch erstaunliche Selbstmobilisierung und Selbstermächtigung aus", was die Mobilisierung der NS-Volksgemeinschaft vielleicht wieder spiegelt. Und: "Die Rolle des Militärs in diesem Prozess war weder die eines Verführers noch die eines Entführers der zivilen Gesellschaft, sondern eher die eines interessierten Nutznießers einer allgemeinen, die Gesellschaft insgesamt charakterisierenden bellizistischen Disposition." (405) Denn an den so dargestellten Schnittstellen zwischen Militär, Gesellschaft und Wissenschaft bildeten sich "äußerst effektive zivil-militärische Hybridkonstellationen heraus, die an die Bedingungen des entgrenzten Krieges angepasst waren". (406) - Das Militär marschierte also frei nach Scharnhorst an der Spitze des Fortschritts. - Insgesamt lässt sich dieses aber nur verstehen, wenn man die politische Situation des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg versteht und das dabei immer wieder aufflammende "Weimarer Revisionssyndrom" (Michael Salewski) als die wichtigste Grundkonstante politischen, militärischen und gesellschaftlichen Verständnisses der Zwischenkriegszeit voraussetzt. Nur unter diesen Bedingungen konnten sich die Wehrwissenschaften zu einer so weitreichend aktiven, mit vielfältigen Akteuren (411-413) agierenden, eigenständigen wissenschaftlichen Community entwickeln. Dass diese nicht simplifizierend als Militarismus beschrieben werden sollte, sondern eben keine populäre oder populistische Erscheinungsform der Zeit war, skizziert Reichherzer abschließend: "Durch mit und in der Bellifizierung wurde der Krieg für Zeitgenossen zum Maß aller Dinge. Die Wehrwissenschaften sind dafür ein Beispiel. Sie trafen den Nerv des Zeitalters - und dieses Zeitalter war bellizistisch." (426)
Die umfangreiche und sehr detaillierte Darstellung des Autors lässt den Eindruck entstehen, dass es die Wehrwissenschaften gerade im Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geben musste, weil der verlorene Krieg zu verarbeiten und zur Korrektur der Niederlage der nächste vorzubereiten war. Die Beschäftigung mit der Militärgeschichte reichte dazu offenkundig - glaubt man dem Autor - nicht aus, weil es eben kein Krieg "wie bisher üblich" war. Da der Krieg alle Kreise der Gesellschaft und des Volkes und das deutsche Staatswesen in seinem Ganzen erschüttert hatte, bedurfte es einer neuen, verwissenschaftlichten Form der Auseinandersetzung damit und folglich einer neuen Wissenschaft, selbst wenn es sich dabei um einen "Modebegriff" handelte (404).
Dass es sich aber eben nicht allein um einen wissenschaftlichen Diskurs in totalitären Systemen handelte, sondern auch in den Demokratien der Nachkriegszeit Wehrwissenschaften stattfanden, beleuchtet ein brillanter Überblick über die Zeit nach 1945. Hier verdeutlicht Reichherzer, dass wir es in den Wehrwissenschaften mit ähnlichen Kontinuitäten zu tun haben, wie in vielen anderen Wissenschaftsfeldern auch. Die Think Tanks im Zeitalter der Blockkonfrontation konnten dabei auf diejenigen Personen bauen, die auch vorher schon tätig waren und die ein oder andere zivile Akademie stand dabei in enger Tuchfühlung zu denjenigen Organisationen und Personen, die beispielsweise in der Bonner Republik das politische Geschehen bestimmten. Wehrkunde war hier ebenso wie zuvor en vogue und weiter verbreitet, als man es heute noch wahrzunehmen vermag und der "Abschied vom Krieg" hatte eben nicht 1945 stattgefunden. Somit kann man nicht nur für die an dieser Stellen ebenfalls abgehandelte DDR - und bei dieser mit dem gleichen, gesamtgesellschaftlich bellifizierenden Verständnis wie im Nationalsozialismus (391ff.) - feststellen, dass unter anderem Chiffre die Wehrwissenschaften weiter existierten (389-402).
Ein umfangreicher Anhang, der auf 14 Seiten Kurzbiographien maßgeblicher und heute zugleich oft vergessener "Wehrwissenschaftler" verzeichnet, und 70 Seiten Literatur, oftmals auch kleiner Miszellen und Annotationen zu dieser ehemaligen Wissenschaft, runden ein gewinnbringendes Buch ab.
Frank Reichherzer: »Alles ist Front!«. Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 68), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 515 S., ISBN 978-3-506-77183-4, EUR 44,90
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