sehepunkte 13 (2013), Nr. 11

Jiří Holý: Tschechische Literatur 1945-2000

Einführende Überblicksdarstellungen über die tschechische Literatur sind im deutschsprachigen Raum rar. Wer sich umfassend informieren will, greift am besten immer noch auf die dreibändige Geschichte der tschechischen Literatur von Walter Schamschula oder Antonín Měšťans Geschichte der tschechischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert von 1984 zurück. In beiden wird jedoch die jüngste Literatur zwangsläufig eher kurz bis überhaupt nicht abgehandelt. Umso erfreulicher ist, dass nun endlich ein Buch vorliegt, das sich ganz der tschechischen Literatur seit 1945 widmet - "nur", aber immerhin bis 2000.

Jiří Holý ist als Autor von Überblicksdarstellungen der tschechischen Literatur für tschechisches, englisches und deutsches Publikum bereits mehrfach hervorgetreten, unter anderem in einem inzwischen vergriffenen Werk [1], das primär für deutschsprachige Slawistik-Studenten gedacht war. Auf Basis dieser Vorarbeiten gelingt Holý nun eine dicht komprimierte Darstellung, die sich auf das Wesentliche beschränkt und dabei doch eine große Anzahl von Informationen zu vermitteln weiß. Das Buch besteht (neben einem Vorwort der Herausgeberin Gertraude Zand) aus drei einander ergänzenden Teilen: einem knappen historischen Abriss der tschechischen Literaturgeschichte zwischen 1945 und 2000, der mit knapp 130 Seiten mehr als die Hälfte des Bandes einnimmt, einer lexikonartigen Vorstellung von 37 Autoren beziehungsweise Autorinnen (circa 70 Seiten) in Kurzporträts und einer rund zwanzigseitigen Bibliografie. Ein Personenregister sowie einige Seiten mit Abbildungen (durchgehend Autorenporträts) runden das Werk ab.

Die literaturhistorische Überblick ist gegliedert nach historischen Epochen ("Die Jahre nach dem Krieg", "Die Jahre des Stalinismus", "Die Jahre des Tauwetters", "Die 'Goldenen Sechziger Jahre'", "Die Jahre der Normalisierung", "Die Jahre nach der Wende") und ordnet den Stoff damit primär politischen Gesichtspunkten unter, was für eine Epoche sicherlich gerechtfertigt ist, in der die Politik derart massiv in das gesellschaftliche Leben (und die Literatur) eingriff. Diese Hauptkapitel sind wiederum unterteilt in jeweils mehrere Kurzkapitel von wenigen, in der Regel 1-4 Seiten Umfang. Hierbei verfährt Holý nicht schematisch nach immer wiederkehrenden Gesichtspunkten (wie etwa den Gattungen), sondern verfolgt zeitspezifisch die wichtigsten literarisch relevanten Tendenzen der jeweiligen Epoche - das Spektrum reicht von der kulturpolitischen Diskussion der Nachkriegszeit über gattungsspezifische Entwicklungen (zum Beispiel Texte für Kleinbühnen oder experimentelle Literatur während der 1960er Jahre), auffälligen literarischen Strömungen ("Romane der Desillusion") und generationsbedingten Erscheinungen (so finden sich zu den 1960er Jahren unter anderem die Unterkapitel "Lyrik der älteren Generation" und "Die Generation der 60er Jahre. Lyrik") bis hin zu thematischen Schwerpunkten wie "Krieg und Holocaust". Hinzu kommen Kurzvorstellungen der jeweiligen zeitgenössischen Exilliteratur wie des literarischen Untergrunds beziehungsweise Samizdat.

Das Hauptproblem jeder literarhistorischen Überblicksdarstellung ist die Frage nach der Kombination aus Faktenfülle und strukturierender abstrakter Aussage über allgemeine Entwicklungstendenzen. Auch bei Holý gibt es zahlreiche aneinandergereihte, in dieser Fülle vom Leser kaum noch merkbare Kurzcharakterisika von ein bis zwei Sätzen Umfang wie: "Tendenziell entgegengesetzt wirken die spröden bis morbiden Verse von Zbyněk Hejda, die eine abgrundtiefe Trauer in Worte fassen und das Geheimnis des Todes zu erforschen trachten; sein dichterisches Gesamtwerk erschien 1996 (Baśně; Gedichte)" (120). Dass es weitere (ähnlich kurze) Informationen zu Hejda auch an anderer Stelle gibt, entgeht dem Leser, der nicht bei jedem der vielen Namen das Register zu Rate zieht. Hier wären kurze Seitenverweise auf die anderen Stellen im Text hilfreich gewesen. Immerhin: Die Verteilung dieser Kurzinformationen auf überschaubar kleine Unterkapitel mit jeweils aussagekräftiger Gesamtcharakterisierung erleichtert es dem Leser, den Überblick zu wahren.

Dem entspricht auch die Gestaltung des zweiten Teiles als kleines, alphabetisch geordnetes Autorenlexikon, in dem freilich nur die wichtigeren und bekannteren Autoren behandelt werden, so dass der einleitende Überblick dieses Minilexikon an Umfang und Datenfülle weit übertrifft, obwohl viele der in den Überblick gepressten Daten besser in ein lexikonförmig geordnetes Muster gepasst hätten. Die Lexikonartikel von circa 2-3 Seiten Umfang sind aufgeteilt in einen ersten biografischen Absatz, einen zweiten, das Werk charakterisierenden Teil sowie eine Auflistung der auf Deutsch erschienenen Werke (bei Václav Havel, Bohumil Hrabal und Pavel Kohout in Auswahl, bei in Deutschland weniger präsenten Autoren unter Hinzuziehung auch englischsprachiger Textausgaben). Abgeschlossen werden diese Artikel durch eine Auswahl an Sekundärliteratur vorrangig in deutscher Sprache; wo eine solche nicht oder nur kaum vorliegt, wird Sekundärliteratur auf Englisch und in anderen "westlichen" Sprachen ergänzt. Nur in Fällen, in denen auch in diesen Sprachen wenig vorliegt, wird schließlich noch tschechische Sekundärliteratur "nachgereicht", was in einem Buch über tschechische Literatur doch etwas übertrieben rücksichtsvoll und schamhaft wirkt.

Man findet hier die in Deutschland bekanntesten Namen vorgestellt (Havel natürlich, Seifert, Holan, Gruša, Kundera, Nezval, Kohout, Klíma, Skácel, Hrabal etc.), aber auch einige hierzulande noch nicht so verbreitete, die in Tschechien bereits zum etablierten Kanon gehören. Die insgesamt sehr ungleiche Verteilung der Daten auf Überblick und Autorenlexikon in dem Buch verstärkt den kanonischen Ausnahmewert der etablierten Autoren und erschwert die Suche nach "Entdeckungen" oder auch nur Informationen über unbekanntere Schriftsteller - für letztere muss man den Umweg über das Register nehmen. Dass die Daten über diese dann auch noch auf mehrere Stellen im Buch verteilt sind, erschwert die Recherche - ein ausführlicheres Autorenlexikon bei gleichzeitiger Entschlackung des Überblicks würde dem Leser die Arbeit mit dem Handbuch im Falle einer Neuauflage sicherlich erleichtern.

Die abschließende Bibliografie enthält Angaben für den des Tschechischen nicht mächtigen deutschen Leser, der sich tiefer in die tschechische Literatur einarbeiten will und deshalb auf in deutscher Sprache vorliegende Informationsquellen verwiesen werden muss: Anthologien tschechischer Literatur in deutscher Übersetzung, Bibliografien, Handbücher (hier auch mit einer kleinen Auswahl tschechischsprachiger Titel) und wissenschaftliche Publikationen zur tschechischen Literatur auf Deutsch und Englisch werden in jeweils chronologischer Reihenfolge aufgeführt.

Abgesehen von der nicht immer glücklichen Verteilung der Informationen zwischen Überblick und Lexikon handelt es sich um ein datenreiches und sorgfältig erarbeitetes Buch in gut lesbarer Übersetzung, das die älteren Standardwerke zwar nicht ersetzt, aber vor allem für die jüngere Literatur bis zum Jahr 2000 sinnvoll ergänzt.


Anmerkung:

[1] Jiří Holý: Geschichte der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Wien 2003.

Rezension über:

Jiří Holý: Tschechische Literatur 1945-2000. Tendenzen, Autoren, Materialien. Ein Handbuch, Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 237 S., ISBN 978-3-447-06575-7, EUR 48,00

Rezension von:
Jürgen Joachimsthaler
Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Joachimsthaler: Rezension von: Jiří Holý: Tschechische Literatur 1945-2000. Tendenzen, Autoren, Materialien. Ein Handbuch, Wiesbaden: Harrassowitz 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de/2013/11/24264.html


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