Als Galilei sich nach seiner Verurteilung 1633 in Siena aufhielt, führte er einer Gruppe von Vertrauten des Erzbischofs Ascanio Piccolomini seine Mondbeobachtungen vor. Unter ihnen war Teofilo Gallaccini (1564-1641), der als Philosoph, Mediziner und später Mathematikprofessor an der Universität Siena lehrte. Die Schilderung dieses Ereignisses in Gallaccinis Traktat Dell'unità del cielo, illustriert durch Zeichnungen der Mondoberfläche, brachte ihm bei einem Biografen des 19. Jahrhunderts den Ruf eines Anhängers Galileis ein. Die Frage nach der Beziehung zu seinem berühmteren Zeitgenossen zieht sich wie ein roter Faden durch Alina Paynes kurze Studie zu Gallaccini, die auf der Auswertung seines fast geschlossen überlieferten Nachlasses in Siena beruht. Gallaccini, der bis auf seine Dissertation nichts veröffentlichte, hinterließ etwa 40 Abhandlungen zu zahlreichen Gebieten, darunter Architektur, Geschichte, Poesie, Astronomie, Anatomie und Mathematik. Der posthume Druck seines Traktats über die Fehler der Architekten im Rahmen einer Debatte zum Neoklassizismus bescherte ihm im 18. Jahrhundert einen 'moment of fame'. Eine intensivere Beschäftigung mit ihm blieb jedoch lange auf die Architekturgeschichte beschränkt.
Payne hingegen möchte Gallaccinis Schaffen in seiner Gesamtheit würdigen. Davon erhofft sie sich Auskunft über das Funktionieren von (im Kuhnschen Sinne) 'normaler' Wissenschaft in Zeiten der 'wissenschaftlichen Revolution' (XIX). Vor allem aber interessiert sie der Dialog zwischen den verschiedenen Wissensgebieten, insbesondere Naturwissenschaft und Kunst (XVI). Dementsprechend bietet die Studie keine umfassende Einführung, sondern wirft Schlaglichter auf einzelne Aspekte und setzt sie in Beziehung miteinander.
Die Schwierigkeiten ihrer interdisziplinären Unternehmung benennt die Autorin gleich im Vorwort (XI) - sie gelten mit umgekehrtem Vorzeichen auch für die Rezensentin: Als Architekturhistorikerin bewegt sich Payne mit ihren Untersuchungen zu Astronomie, Mathematik und Anatomie auf fremdem Terrain. Diese Gebiete, denen sich zwei der fünf Kapitel widmen, werden im Folgenden im Vordergrund stehen. Neben einem Kapitel über Biografien Gallaccinis beschäftigen sich zwei weitere mit Architektur. Ein hilfreicher Anhang mit Dokumenten zum Leben Gallaccinis schließt den Band ab.
Begleitet wird er durch die Edition einiger Traktate Gallaccinis wie des schon erwähnten Dell'unità del cielo. [1] Dort argumentiert Gallaccini, das geozentrische Weltbild voraussetzend, für die Einheit des Himmels und gegen die damals dominante Annahme von Himmelssphären. Seine These wirkt 'modern', seine Motivation nicht: Wie er im Vorwort schreibt, möchte er einer "divina scienzia" gegenüber Philosophie, Astronomie und Mathematik zu ihrem Recht verhelfen. Payne interessiert sich hier für das Nebeneinander heterogener Wissensformen: Zwischen seitenlangen Auslegungen der antiken und christlichen kanonischen Texte verweist Gallaccini auf Supernovas (39) und die erwähnten Mondbeobachtungen; dazwischen findet sich ein Kommentar zu John Dees hermetischer Monas hieroglyphica.
Originell ist auch Gallaccinis Beschäftigung mit Mathematik und Anatomie. Illustrationen belegen seine geometrische Vermessung des Körpers. So studierte er in Abhandlungen zum Kreis und zum Winkel Statik und Bewegung des Menschen (59, 64). Die Autorin hebt hervor, dass im Unterschied zu Leonardo da Vinci bei ihm nicht die Mathematik Hilfsmittel der Anatomie sei, sondern die Anatomie dazu diene, abstrakte Geometrie anschaulich zu machen (66f.). In diesem Zusammenhang dachte er auch über die Rolle von Zeichnungen und Anwendungen in der Mathematik nach (73, 75, 116f.).
Astronomie und Anatomie werden bei Gallaccini über Analogien miteinander verbunden: So wird das Leuchten der Sterne mit dem Öffnen und Schließen einer Hand in Beziehung gesetzt (76) und die Erde mit einem Tierkörper (71). In seinen Abhandlungen über Architektur finden sich Vergleiche mit dem menschlichen Körper (103, 115). Gebietsübergreifend spielen die Themen Statik und Bewegung sowie vom Neoplatonismus beeinflusste Analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos eine Rolle (82), außerdem die Methoden der wissenschaftlichen Revolution: mathematische Naturbeschreibung, eine sich an Euklid orientierende axiomatische Argumentationsweise und die Verbindung von Theorie und Praxis. So beschäftigte er sich in der erwähnten Abhandlung Degli errori degli architetti auch mit den Problemen eines Ingenieurs. Alle Gebiete profitieren außerdem von Gallaccinis Zeichenfertigkeit, die in der Beschäftigung mit Kunst und Architektur ihren Ursprung hat.
Eloquent und abwechslungsreich geschrieben, macht die reich illustrierte Studie auf Gallaccinis zum Großteil noch unveröffentlichte Schriften neugierig. An vielen Stellen hätte die Rezensentin gerne mehr Details erfahren - auch deshalb, weil trotz Paynes im Allgemeinen abwägender Darstellung manchmal der Wunsch, bei ihrem Protagonisten Modernität und Originalität auszumachen, die Interpretation zu leiten scheint. Das betrifft zum Beispiel Gallaccinis Diskussion von Polen in Analogie zur Erde bei Körperteilen wie dem Auge (58f.). Payne erklärt, er habe damit die Bewegung der Erde plausibel machen wollen. In seinen Ausführungen bleibt die Analogie jedoch vage. Weit hergeholt erscheint ihr Schluss von Gallaccinis Studium der perspektivisch veränderten Größenverhältnisse am Firmament auf eine eventuelle Kenntnis von Galileis Thesen zu Sonnenflecken, bei denen Perspektive auch eine Rolle spielt (119f.). Gallaccinis Umgang mit Axiomatik (77f.) wurde klarer und überzeugender von Annalisa Simi dargestellt. [2]
Die Möglichkeit, dass er in seinen Schriften dissimulierte (45) und häretische Bücher nach seinem Tod aus dem Nachlass entfernt wurden (32), erschwert eine Einschätzung, inwieweit Gallaccinis Beschäftigung mit Galilei über das einmalige Treffen hinausging. Schadete die Begegnung Gallaccinis Bewerbung auf eine Mathematikprofessur (44), wandte er sich vielleicht sogar aus Angst vor der Inquisition in späteren Jahren von der Naturwissenschaft ab (159f.)? War er deswegen um seinen Nachlass so besorgt (154)? Darüber kann Payne nur Vermutungen anstellen. Am Ende bleibt ein Vexierbild, das zu fixieren die Herausforderung weiterer Untersuchungen sein wird.
Anmerkungen:
[1] Teofilo Gallaccini: Selected Writings and Library, hg. von Alina Payne mit einem Beitrag von Giovanni Maria Fara, Florenz 2012.
[2] Annalisa Simi: Teofilo Gallaccini matematico e teorico nella Siena di fine '500, in: Il sogno di Galois. Scritti di storia della matematica dedicati a Laura Toti Rigatelli per il suo 60º compleanno, hgg. von Raffaella Franci / Paolo Pagli / Annalisa Simi, Siena 2003, 91-121.
Alina Payne: The Telescope and the Compass. Teofilo Gallaccini and the Dialogue Between Architecture and Science in the Age of Galileo (= Biblioteca dell' "Archivum Romanicum". Serie I; 393), Florenz: Leo S. Olschki 2012, XIX + 240 S., ISBN 978-88-222-6122-9, EUR 30,00
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