Plutarch, einer der vielseitigsten und meistgelesenen Autoren der Antike, der von Erasmus und Shakespeare über Montaigne bis hin zu Schiller und Beethoven großen Einfluss ausgeübt hat, dann aber mit dem Aufkommen des Historismus in den Hintergrund des Interesses getreten ist, erfreut sich seit einigen Jahrzenten wieder einer größeren Aufmerksamkeit der Forschung in unterschiedlichen Bereichen. Dabei tritt zunehmend der religiöse Charakter des Denkens des Chaironeers hervor [1], der nicht unwesentlich für dessen enorme Wirkung im Bereich des Christentums gewesen sein dürfte. Der vorliegende Band, aus einer Tagung der überaus aktiven Internationalen Plutarchgesellschaft [2] hervorgegangen, ist deshalb besonders zu begrüßen, weil er programmatisch die Bereiche der Religion und der Philosophie in der Betrachtung Plutarchs zu verbinden sucht. Der platonische Philosoph, der am Ausgang des 1. und Beginn des 2. Jahrhunderts n.Chr. für mindestens zwei Jahrzehnte als Priester des Apollon in Delphi gewirkt hat, repräsentiert wie wohl kein zweiter Autor die Wendung zu einer religiös gewendeten Philosophie in der frühen Kaiserzeit, an deren Ausbildung auch das entstehende Christentum teilhat. [3]
Der Band ist aus pragmatischen Gründen in zwei Teile "Plutarch and Philosophy" und "Plutarch and Religion" geteilt, wobei die Herausgeber in der detailreichen, weitgespannten Einleitung ("Plutarch at the Crossroads of Religion and Philosophy") deutlich zu verstehen geben, dass diese traditionelle Aufteilung die komplexe Verbindung von religiösen und philosophischen Diskursen in der Kaiserzeit nicht widerzuspiegeln vermag; ja man wird wohl die Trennung selbst in Frage stellen müssen ("One may even contest the separation of philosophy and religion in his work, claiming that such a distinction reveals itself to be artificial"; 13). Die Problematik der Zuordnung ist am augenfälligsten beim Beitrag von Frederick Brenk ("Plutarch and 'Pagan Monotheism'"), den man schon vom Titel her kaum einfach unter "Philosophie" wird unterbringen können. Brenk zeigt - von der Wirkungsgeschichte ausgehend - im Anschluss an eigene frühere Publikationen die Nähe des Gottes Plutarchs zum christlichen Gottesbild auf: Insbesondere die Vorstellung der Einheit Gottes und sein persönliches Eingreifen in die Welt sind hier zu erwähnen. Das Thema der überraschenden Nähe zum Christentum, von dem Plutarch - anders als vom Judentum - keine Notiz genommen hat, wird bei George van Kooten ("A Non-Fideistic Interpretation of πίστις in Plutarch's Writings. The Harmony between πίστις and Knowledge") im zweiten Teil des Bandes an einem besonders interessanten, auch für die neutestamentliche Forschung zentralen Einzelbeispiel durchgeführt: Trägt man der philosophischen Kontextualisierung des Begriffs πίστις (Glauben) bei Plutarch Rechnung, die - wiewohl sie durchaus im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen steht - auch Aspekte von "Überzeugung/Beleg" und "Vertrauen" einschließt, wie van Kooten dies im Anschluss an verschiedene Studien von Françoise Frazier aufzeigt [4], dann wird eine isoliert paulinisch-fideistische Verwendung des Begriffs unplausibel.
Den Auftakt des Bandes im ersten Teil "Plutarch and Philosophy" bilden eine Reihe von Beiträgen, die dem Verhältnis Plutarchs zu verschiedenen philosophischen Traditionen gewidmet sind, zunächst zur Seelenlehre des Aristoteles (Abraham P. Bos), dann zu verschiedenen Aspekten der stoischen Lehre (Francesco Becchi, Raúl Caballero). In einer differenzierten Betrachtung des Problems der Leidenschaften verortet Francesco Becchi ("The Doctrine of the Passions. Plutarch, Posidonius and Galen") den Kern des Dissenses Plutarchs mit der stoischen Lehre in der dualistischen Anthropologie. Die natürlichen Leidenschaften, von denen Plutarch in De virtute morali handelt, sind nicht per se das Ergebnis von Fehlurteilen. Sie haben ihre Wurzeln in der Körperlichkeit des Menschen und gehören deshalb zu seinem Wesen - sie sind nicht zu bekämpfen, sondern lediglich in einem gesunden Maß zu halten. Gefährlich indes sind solche Leidenschaften, die auf einer Schwäche des Denkens beruhen, gefährlich deshalb, weil hier jenes Organ befallen ist, durch das eine heilende Mäßigung herbeigeführt werden soll. Plutarchs besonderes Interesse an der Ethik als einer Theorie geglückter und gesunder Lebensführung kommt hier besonders klar zum Ausdruck. Wie sehr sich die ethisch-pädagogische bei Plutarch mit einer politischen Perspektive verbindet, führt Geert Roskam angesichts der Vita des Alkibiades vor; Delfim F. Leão fügt im zweiten Teil des Bandes die religiöse Perspektive hinzu, indem er sich den mit dem Namen des Alkibiades verbundenen religiösen Freveln von 415 v.Chr. (dem Hermokopidenfrevel und der Profanierung der eleusinischen Mysterien) zuwendet. Die Rezeptionsgeschichte Plutarchs wird bei Roskam über Proklos, im folgenden Aufsatz von Michiel Meeusen über Michael Psellus einbezogen.
Die unter der Überschrift "Plutarch and Religion" versammelten Beiträge diskutieren zum Teil recht spezielle Einzelprobleme der Religionsgeschichte, von denen es bei Plutarch, schon allein in seinen verschiedenen Quaestiones unzählige gibt. Ana Isabel Jiménez San Cristóbal untersucht die Frage der Herkunft des Iacchus und seiner Identifizierung mit Dionysos; Angelo Casanova stellt die bekannten Belege für Plutarchs Wirken als Priester in Delphi aus Inschriften sowie aus seinen eigenen Schriften zusammen, um einige Einzelprobleme der Plutarchinterpretation anzusprechen, die allerdings nicht unmittelbar im Zusammenhang seines Priesteramtes stehen; Lautaro Roig Lanzillotta weist nach, dass sich die religiöse Kritik Plutarchs an Herodots θεῖον πᾶν φθονηρόν nicht, wie üblicherweise angenommen, an der Vorstellung von einem neidischen Gott entzündet, sondern vielmehr an der Vorstellung, die Gottheit könne den Menschen nicht mit Großzügigkeit und wohlwollender Güte in φιλανθρωπία zugewandt sein, sondern ihnen mit Missgunst begegnen; die im Titel "Plutarch's Idea of God in the Religious and Philosophical Context of Late Antiquity" angekündigte Diskussion der plutarchischen Gottesvorstellung ist hier also auf einen Punkt zugespitzt. Anhand des weitverbreiteten Glaubens an einen Einfluss von Sonne und Mond auf die Tiere, ihr Verhalten und ihren Organismus, zeigt Aurelio Pérez Jiménez in Auseinandersetzung mit früheren Deutungen bei Jean Hani auf, wie sehr kosmologische, religiöse und biologische Diskurse bei Plutarch ineinander verflochten sind. Mit Fr. 157 Sandbach widmet sich Rosario Scannapieco der plutarchischen Vorstellung einer in antiken Mythen und religiösen Riten verborgenen μυστηριώδης θεολογία zu, die durch eine philosophische Interpretation zu erheben ist. Nach der Mythenrezeption thematisiert der abschließende Aufsatz Israel Muñoz Gallarte die Produktion von eschatologischen Kunstmythen bei Plutarch im Anschluss an Platon. Die Darstellung der Seelenfarben in Plutarchs Jenseitsvision in seinem Mythos in De sera numinis vindicta vergleicht er mit den apokryphen Johannesakten und macht damit auf eine der vielfältigen Parallelen zwischen Plutarch und der frühchristlichen Literatur aufmerksam, die bisher noch einer eingehenderen Untersuchung harren. Der Aufsatz lässt durchaus auch die Frage aufkommen, ob die Johannesakten nicht durch eine Lektüre der Seelenfarben Plutarchs beeinflusst sein könnten, zumal weitere Metaphorik aus De sera wie etwa die Rede von Wunden der Seele aufgenommen ist. Muñoz Gallartes Rede von einer "Parallele" wäre dann freilich zu überdenken.
Der Band ist sorgfältig präsentiert und fügt der Diskussion um das Verhältnis von Religion und Philosophie bei Plutarch einige wichtige Aspekte hinzu. Freilich gehen in einen Tagungsband wie diesen nicht unüblicherweise auch Spezialstudien ein, was dazu führt, dass eine systematischere Aufarbeitung dieses so wichtigen Themas nur an einzelnen Stellen zu erkennen ist. Das ist etwas schade, da auf diese Weise zuletzt wieder die Aspekte von Philosophie und Religion bei Plutarch weitgehend nebeneinander stehen bleiben. Dennoch: der Band sollte in keiner Bibliothek fehlen, die sich mit kaiserzeitlicher Literatur, Philosophie und Religion beschäftigt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. insbesondere die älteren monografischen Arbeiten von Frederick E. Brenk: In Mist Apparelled. Religious Themes in Plutarch's Moralia and Lives (= Mnemosyne Suppl.; Bd. 48), Leiden 1977; ID.: An Imperial Heritage. The Religious Spirit of Plutarch of Chaironeia, in: ANRW II/36.1, Berlin u.a. 1987, 248-349; sowie neuerdings verschiedene Tagungsbände der Internationalen Plutarchgesellschaft: Italo Gallo (Hg.): Plutarco e la religione (Atti del VI Convegno plutarcheo Ravello, 1995), Neapel 1996; Rainer Hirsch-Luipold (Hg.): Gott und die Götter bei Plutarch. Götterbilder - Gottesbilder - Weltbilder (= RGVV; Bd. 54), Berlin / New York 2005; Luc Van der Stockt et al. (Hgg.): Gods, Daimones, Rituals, Myths and History of Religions in Plutarch's Works. Studies Devoted to Professor Frederick E. Brenk by the International Plutarch Society, Logan / Málaga 2010.
[2] http://www.usu.edu/ploutarchos/.
[3] Vgl. Rainer Hirsch-Luipold: Die religiös-philosophische Literatur der frühen Kaiserzeit und das Neue Testament, in: Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit (Ratio Religionis Studien I) (= STAC; Bd. 51), Tübingen 2009, 117-146.
[4] Françoise Frazier: Philosophie et religion dans la pensée de Plutarque. Quelques réflexions autour des emplois du mot πίστις, in: Études platoniciennes V (2008), 41-61.
Lautaro Roig Lanzillotta / Israel Muñoz Gallarte (eds.): Plutarch in the Religious and Philosophical Discourse of Late Antiquity (= Ancient Mediterranean and Medieval Texts and Contexts; Vol. 14), Leiden / Boston: Brill 2012, XI + 304 S., ISBN 978-90-04-23474-1, EUR 107,00
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