Im Jahr 2012 sind gleich zwei Biografien über den Widerstandskämpfer und Auschwitz-Chronisten Hermann Langbein erschienen. Dieses plötzliche Interesse an dessen Leben und Wirken ist auf seinen 100. Geburtstag zurückzuführen [1], zuvor hatte es nur einen kurzen biografischen Essay über den 1995 verstorbenen Österreicher gegeben [2]. Verwunderlich ist dieses bis dahin fehlende Interesse an einem der wichtigsten Zeitzeugen und Analytiker von Auschwitz insofern, da dieser mehrere wissenschaftliche Standardwerke zur Geschichte dieses Vernichtungslagers verfasst hat, allen voran "Menschen in Auschwitz", aber auch "... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank". Dabei setzte er sich auch mit Widerstandshandlungen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern auseinander. [3] Diese Forschungslücke wurde nun mit zwei sehr unterschiedlichen, aber gleichermaßen fundierten Studien aus der Feder von Katharina Stengel und Brigitte Halbmayr geschlossen.
Beide arbeiten biografisch, wenngleich der theoretische Ausgangspunkt in beiden Fällen eine Problematisierung althergebrachter "Lebensgeschichte" ist. Stengel spricht mit Pierre Bourdieu gar von einer "biografischen Illusion"; Skepsis gegenüber der Vorstellung einer kohärenten und konstanten Biografie sei angebracht. Ähnlich argumentiert auch Halbmayr, wenn sie monokausale Erklärungen für Verhaltensweisen ablehnt, führten diese doch "zu einem falschen, nachträglich konstruierten 'roten Faden', der dem realen Leben mit all seinen Zufällen und Wegkreuzungen nicht gerecht wird" (Halbmayr, 14).
Freilich zeigen sich schon in den einleitenden Kapiteln trotz großer konzeptioneller Überschneidungen auffällige Unterschiede: Während Halbmayr trotz aller Behutsamkeit bei ihrer theoretischen Positionierung eine "klassische" Biografie schreibt, indem sie Langbeins Leben und Wirken in den Mittelpunkt ihres Narrativs stellt, liegt Stengels Schwerpunkt auf Langbeins Rolle in geschichtspolitischen (oder: erinnerungspolitischen) Kontroversen der Nachkriegszeit beziehungsweise auf den Konflikten selbst. Der "große Mann", so führt Stengel aus, ist sowohl Effekt als auch Akteur sozialer Strukturen. Der biografische Zugriff ermögliche daher den Zugang zur konkreten Verarbeitung historischer Erfahrungen, ein individuelles Leben sei so als "Kreuzungspunkt unterschiedlicher historischer und politischer Entwicklungen, Diskurse und sozialer Zusammenhänge" fassbar (Stengel, 11f). Es sind dabei nicht nur unterschiedliche Forschungsinteressen, die sich in diesen unterschiedlichen Fokussierungen manifestieren, sondern auch divergente Intentionen. Während Stengel den wichtigen Anteil, den ehemalige Verfolgte an politischen Konflikten um die NS-Vergangenheit nach 1945 hatten, zu vergegenwärtigen versucht (Stengel, 28 und 587), ist Halbmayrs Werk ganz klar als posthumes Geschenk zum 100. Geburtstag der "Gesellschaft für politische Aufklärung" an ihren Mitbegründer Hermann Langbein deklariert (Halbmayr, 12).
Der Logik einer Biografie folgend, ist beiden Arbeiten ein lebensgeschichtlicher Abriss über Langbein gemein. Am 18. Mai 1912 in Wien geboren, stieß Langbein in jungen Jahren zur Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Seine politischen Überzeugungen führten ihn als Interbrigadist nach Spanien, später in diverse französische Internierungslager, etwa nach Saint Cyprien, Gurs oder Le Vernet. Bevor er in Neuengamme befreit wurde, begann 1942 die wohl wichtigste und prägendste Phase seines Lebens: Langbein wurde Schreiber des SS-Standortarztes in Auschwitz, Eduard Wirths, wobei er diese privilegierte Position für Widerstandsaktivitäten und Hilfe für andere Häftlinge nützte. Sein 1945 im Auftrag der Briten verfasster Augenzeugen-Bericht ("Hannover-Bericht") über die Gräuel in Auschwitz bildete den Ausgangspunkt für seine Nachkriegsrolle als Aufklärer über und Chronist der NS-Verbrechen in Konzentrations- und Vernichtungslagern.
Schon kurz nach Kriegsende begann hingegen Langbeins Entfremdung von der KPÖ, die Halbmayr auch auf die Versetzung Langbeins 1953 als Redakteur für eine deutschsprachige Radiosendung nach Ungarn zurückführt. Der einst "gläubige Kommunist", so Langbein selbst, wurde letztlich 1958 aus der KP ausgeschlossen. Auch seine Position als Generalsekretär des 1954 in Wien gegründeten, stark kommunistisch geprägten Internationalen Auschwitz Komitees (IAK) musste er niederlegen. Erst 1963 übernahm Langbein wieder Funktionen in einer Organisation von Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern und Überlebenden; er wurde zum Sekretär des Comité International des Camps gewählt. Während der Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963-1965 zeichnete sich Langbein schließlich in besonderer Weise als Zeuge, Chronist und Beobachter aus. Langbein habe dabei, so Halbmayr, andere Zeuginnen und Zeugen von der "Notwendigkeit des qualvollen Erinnerns" überzeugt und zur großen gesellschaftspolitischen Wirkung der Prozesse beigetragen (Halbmayr, 199).
Während Brigitte Halbmayr chronologisch folgerichtig Langbeins Wirken als Zeitzeuge in Schulen sowie als politischer Aufklärer generell schildert und dann auf seine wichtigsten Werke und sein Familienleben eingeht, unterbricht Stengel hier die Lebensgeschichte. Ohnehin galt ihr Forschungsinteresse weniger dem Menschen als dem Akteur Langbein. Stengel untersucht besonders die Entstehungsgeschichte des Internationalen Auschwitz Komitees und zeichnet dabei anhand von Langbeins Vita sowie dessen Bruch mit dem Parteikommunismus Kontroversen im vom Kalten Krieg geprägten Nachkriegseuropa nach.
Eine besondere Bedeutung bei diesen Konflikten habe dabei - nicht nur bei Langbein - der Wunsch der Umdeutung des Verfolgtenstatus in einen Ehrentitel gehabt - ein Wunsch, der mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Anerkennung und Mitgestaltungsmöglichkeiten in den Nachkriegsgesellschaften verbunden war. Die positive, heroisierende Bezugnahme auf den nationalen Widerstand bot Anknüpfungspunkte für Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer sowie für politische Eliten; weniger leicht ließ sich allerdings die jüdische Perspektive auf Auschwitz in dieses Narrativ integrieren.
Die Kontroversen rund um das "Wollheim-Abkommen" zur Entschädigung der Auschwitz-Häftlinge, die für die IG Farben Zwangsarbeit leisten mussten, sind für Katharina Stengel ein klarer Indikator für diese narrativen Unverträglichkeiten, aber auch ein Ausdruck der gesamtgesellschaftlichen Ohnmächtigkeit der ehemaligen KZ-Häftlinge sowie für deren Zerstrittenheit. Während auf der einen Seite die angeklagten Unternehmen fast gänzlich von der bundesdeutschen Justiz und Politik abgesichert wurden, hätten die jüdischen Überlebenden darüber hinaus auch noch im "Konkurrenzkampf" mit den nicht-jüdischen Überlebenden innerhalb des IAK die schlechteren Karten gehabt (Stengel, 275). Beide Autorinnen betonen allerdings mehr oder weniger explizit, dass speziell für Langbein die Aufarbeitung des Völkermords an den Juden, aber auch das Schicksal der Roma und Sinti, besondere Anliegen gewesen seien (Stengel, 63). So wurde Langbein 1967 auch zum "Gerechten unter den Völkern" ernannt.
Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen ist beiden Biografien zweierlei gemein: eine Faszination für den Menschen Langbein sowie eine intensive Auseinandersetzung mit dessen kommunistischer Weltanschauung. Halbmayr würdigt Langbeins Handeln und Charakter explizit, indem sie ihn etwa als aus der "anonymen Masse" hervorgehobenen Menschen mit klaren Standpunkten und einer großen Entschiedenheit beschreibt (Halbmayr, 288). Aber auch bei Katharina Stengels eher unpersönlichen Einschätzungen wird klar, dass sie Langbeins Handeln und Wirken als zwar in manchen Belangen typisch für die Gruppe der politisch aktiven Überlebenden und Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer sieht, diesen aber dennoch besonderen Charakter zuschreibt.
Die Auseinandersetzung mit Langbeins politischen Überzeugungen vor und nach Auschwitz sowie vor und nach dem Ausschluss aus der KPÖ 1958 strukturieren weite Teile von Halbmayrs Buch. Dies ist insofern konsequent, da sowohl der Chronist als auch der Mensch Langbein seine Erfahrungen in Auschwitz sowie seine Tätigkeit als Zeitzeuge nach dem Krieg vor der Folie seiner politischen Überzeugungen verarbeitet hat. Katharina Stengel geht es strukturell eher um kollektive Erinnerungskulturen nationaler und gruppenspezifischer Art als Motivationsgrundlage für Gedächtniskonflikte. Als einziges Manko lässt sich hier eine gewisse Vernachlässigung des spezifisch österreichischen Nachkriegskontexts, der österreichischen Erinnerungskultur nach 1945, konstatieren [4], was allerdings auf den internationalen Charakter des IAK und auf den spezifisch bundesdeutschen Hintergrund der Auschwitz-Prozesse zurückzuführen sein könnte.
Katharina Stengels und Brigitte Halbmayrs Biografien über Hermann Langbein setzen sich zwar mit der gleichen Person auseinander, tun dies aber auf eine sehr unterschiedliche, komplementäre Art und Weise. Das Leben Hermann Langbeins bietet sich aber auch idealiter für divergente Narrative an. Es kann sowohl als klassische "Heldengeschichte" über einen Widerstandskämpfer und nach 1945 unermüdlichen Mahner gegen den Faschismus und das Vergessen erzählt werden, es können aber auch die großen politischen Überzeugungen des 20. Jahrhunderts und die großen Trends und einschneidenden Ereignisse thematisiert werden, die die Biografie des Menschen Langbein strukturierten.
Anmerkungen:
[1] So fand 2012 in Wien eine Tagung zu diesem Anlass statt; dabei referierten sowohl Katharina Stengel als auch Brigitte Halbmayr: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=19061&count=3&recno=1&sort=datum&order=down¤t=0&search=Langbein.
[2] Carmen-Renate Köper: Zwischen Emigration und KZ - fünf Leben. Hermann Langbein, Victor Matejka, Bernhard Littwack, Karl Paryla, Trude Simonsohn, Wien 2008.
[3] Vgl. Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz, Wien 1972; ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern 1938-1945, Geleitwort von Eugen Kogon, Frankfurt a.M. Main 1980.
[4] Vgl. etwa Bertrand Perz: Österreich, in: Verbrechen erinnern: Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, hgg. von Volkhard Knigge / Norbert Frei, Bonn 2005, 170-182; Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005; Heidemarie Uhl: Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses, in: Mythen der Nationen: 1945 - Arena der Erinnerungen, Begleitband zur Ausstellung, Bd. 2, hg. von Monika Flacke, Berlin 2004, 481-508; Martin Wassermair / Katharina Wegan (Hgg.): Rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck u.a. 2006.
Brigitte Halbmayr: Zeitlebens konsequent. Hermann Langbein. Eine politische Biografie, Wien: Braumüller Verlag 2012, 352 S., ISBN 978-3-99100-065-5, EUR 24,90
Katharina Stengel: Hermann Langbein. Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 21), Frankfurt/M.: Campus 2012, 641 S., ISBN 978-3-593-39788-7, EUR 34,90
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