sehepunkte 14 (2014), Nr. 3

Beat Näf: Antike Geschichtsschreibung

Den Vorwurf der Oberflächlichkeit, den Einführungen in komplexe Themengebiete häufig auf sich ziehen, wird man diesem Band nicht machen: Beat Näf bietet in seinem Buch zur antiken Geschichtsschreibung echte Auseinandersetzung statt schnell konsumierbarer Tabellen, er geht in die Tiefe und verlangt einen mitdenkenden Leser, der bereit ist, sich auf ganz grundsätzliche Fragen, auf originelle Gedankengänge und auf Abschweifungen verschiedener Art einzulassen. Dazu passt, dass Näf nicht chronologisch einen Historiographen nach dem anderen abarbeitet, sondern systematisch vorgeht. Der in neun Kapitel gegliederte Text basiert auf den Vorlesungen, die der Verfasser in den Jahren 1994 bis 2010 an der Universität Zürich gehalten hat (27f.).

Neu an Näfs Ansatz ist, dass er die antike Geschichtsschreibung in einer radikal gegenwartsbezogenen Perspektive darstellt. Dabei kommt er immer wieder auf die grundlegende Frage zurück, was denn Geschichte ist und was Geschichtsschreibung ausmacht, heute und in der Antike. Im ersten Kapitel, seiner Einleitung (9-30), skizziert er mögliche Motive für ein Interesse an der Geschichte und legt dar, dass ein solches Interesse unweigerlich die Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsdarstellung nach sich zieht: Es ist heute "wichtiger denn je, zu wissen, wie Rekonstruktionen der Vergangenheit, Geschichtsbilder und die Wahrnehmung der Gegenwart zustande kommen" (21).

Im anschließenden zweiten Kapitel (31-44) fasst Näf zusammen, welche antiken Geschichtsdarstellungen überhaupt erhalten sind, und wie die kanonisierten Autoren in Antike und Neuzeit beurteilt wurden. Das dritte Kapitel ist mit verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung befasst (45-70). Nur kurz blickt Näf auf den Alten Orient, wo "eine eigentliche Geschichtsschreibung" fehlt (46), sowie auf die Anfänge der Gattung bei den Griechen, um dann historiographische Untergattungen wie Universalgeschichte, Biographie oder Kompendium zu behandeln. Diese werden anhand ihrer wichtigsten antiken Vertreter vorgestellt, so dass die Bandbreite innerhalb der einzelnen Subgenres deutlich wird.

Einen ungewöhnlichen Ansatz verfolgt das vierte Kapitel unter dem Titel "Der Verzicht auf vertiefte historische Aufarbeitung und Darlegung" (71-91). In einer Art Aufstellung der nie verfassten Geschichtswerke werden Autoren besprochen, die historische oder zeithistorische Themen aufgegriffen haben, ohne sich an eine wirklich historiographische Darstellung zu wagen. Sie veröffentlichten zum Beispiel Briefe oder Verse, die als Grundlage zukünftiger Geschichtsschreibung verstanden werden konnten. Näf geht unter anderem ausführlich auf Cicero und Sidonius ein und kann exemplarisch zeigen, wie hier "der Wunsch nach historischer Darstellung mit den Schwierigkeiten der Realisierung kollidierte" (74).

Im fünften Kapitel (92-110) geht es darum, wie antike Historiker mit ihren Quellen umgingen. Näf zeigt in knapper Form die Entwicklung methodischer Ansätze der Quellenarbeit von Herodot bis hin zu Euseb auf und entwirft ein plastisches Bild von der Tätigkeit des antiken Historikers, der Archive und Bibliotheken konsultierte, reiste und Zeitzeugen befragte. Die literarische und strukturelle Gestaltung von Geschichtswerken ist Gegenstand des sechsten Kapitels (111-130).

Im folgenden Kapitel geht es um die konzeptionellen Leistungen der antiken Geschichtsschreibung (131-151); hier werden vor allem Herodot, Thukydides und Polybios gewürdigt. Die Errungenschaft der antiken Historiographen liegt Näf zufolge erstens im Abstützen auf Quellen (freilich ohne jemals eine eigentliche Quellenkritik zu entwickeln), zweitens im Fragen nach den Ursachen historischer Ereignisse. Auf Geschichtsbild und Geschichtsphilosophie antiker Historiker geht Näf im achten Kapitel ein (152-179), wobei er mit dem Gilgamesch-Epos, dem Alten Testament, Homer und Hesiod weit zurückgreift und den Bogen bis zu Augustin spannt. Immer wieder nimmt er aber auch die moderne Weiterentwicklung antiker Geschichtsmodelle in den Blick (etwa durch Oswald Spengler).

Anschließend widmet Näf sich der Kritik an den Vorgängern und dem Bewusstsein der antiken Historiker, in einem Wettbewerb zu stehen (180-203). Ein knappes zehntes Kapitel zeigt auf, welche Position die antiken Geschichtsschreiber innerhalb der Gesellschaft hatten und wie diese Stellung ihre Werke beeinflusste (204-218). Näf kommt hier auch auf das Problem zu sprechen, wie sich historische Ereignisse darstellen ließen, an denen der Autor als Akteur beteiligt war (wie Thukydides, Xenophon, Caesar, Polybios, Sallust, Arrian und Ammian).

In einem letzten Kapitel werden Wirkung und Rezeption der antiken Geschichtsschreibung skizziert (219-229). Der Band wird durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einen Index ausgewählter Personen und Gegenstände abgeschlossen.

Die griechischen Wörter sind sinnvollerweise durchgängig transkribiert und mit Betonungszeichen versehen (im Lateinischen dagegen ist der Wortakzent nicht markiert). Die Anmerkungen sind als Kapitelendnoten gegeben, was die Rezensentin unpraktisch findet, aber einem breiteren Publikum entgegenkommen mag. Sporadisch gibt es Abbildungen, die den Text aber allenfalls assoziativ begleiten. So findet sich unter einem Abschnitt zur Genealogie die Abbildung "Die doppelte Ahnenreihe des Josef über der Darstellung der Geburt Jesu in der Bibel von Foigny", ohne dass dies in irgendeiner Weise aufgegriffen würde (66); ähnlich ein Ausschnitt aus dem David-Gemälde der Krönung Napoleons, dessen einziger Bezug zum Text eine Erwähnung des jungen Bonaparte ist, der sich mit den Commentarii Caesars auseinandersetzte (12).

Näf schreibt sperrig und mit einer interessanten Vorliebe für gnomische Wendungen, die man, wäre man seinerzeit Hörerin seiner Zürcher Vorlesungen gewesen, gewiss als wörtliche Zitate in der Marginalie der Mitschrift notiert hätte ("Geschichte ist wie das Wetter nur ein Modus der Zeit", 9; "Für Menschen gibt es keinen Ort außerhalb der Geschichte", 79). Gelegentlich polemisiert er gegen Kollegen, die "eigenartige Vorlieben für in der Gegenwart Vorteile versprechende Selbstbeschränkungen auf Ausschnitte des Geschichtlichen" entwickeln (17) und die lieber Beiträge für Festschriften verfassen, als sich an große Aufgaben zu wagen (71 und öfter).

Erfreulich ist, dass der Verfasser nicht nur die üblichen Klassiker der antiken Geschichtsschreibung berücksichtigt, sondern auch entlegenere oder fragmentarisch überlieferte Autoren. Auch die spätantike und christliche Literatur bis ins sechste Jahrhundert wird ausführlich gewürdigt. Das Buch ist damit im besten Sinn umfassend und leistet einen fundierten Überblick über die Historiographie der Antike. Für Studienanfänger scheint es der Rezensentin gleichwohl nur bedingt geeignet. Um mit der Fülle von Personennamen und den Zeitsprüngen der Darstellung zurecht zu kommen, sind solide Vorkenntnisse unverzichtbar, und inhaltlich schreibt Näf mitunter sehr voraussetzungsreich, wenn en passant Petrarca, Hegel oder Marx ins Spiel gebracht werden oder von einer "epistemologisch-historischen Systematik" (23) die Rede ist. Die diachrone Anordnung des Materials hätte man mit Rücksicht auf das intendierte studentische Publikum vielleicht durch eine chronologische Übersicht der vorkommenden Autoren ergänzen können.

Dass das Buch in einer Reihe erscheint, die sich laut Verlagsbeschreibung dezidiert an Studierende wendet, sollte Fachleute nicht von der Lektüre abhalten. Näf bietet eine originelle und bedenkenswerte Auseinandersetzung mit der antiken Geschichtsschreibung, die das Nachdenken über die Aufgaben der heutigen Historiker mit einschließt.

Rezension über:

Beat Näf: Antike Geschichtsschreibung. Form - Leistung - Wirkung, Stuttgart: W. Kohlhammer 2010, 252 S., ISBN 978-3-17-021357-9, EUR 27,00

Rezension von:
Susanne Froehlich
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Froehlich: Rezension von: Beat Näf: Antike Geschichtsschreibung. Form - Leistung - Wirkung, Stuttgart: W. Kohlhammer 2010, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/03/18629.html


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