sehepunkte 14 (2014), Nr. 4

Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung

Zu den Errungenschaften der Postmoderne zählt die Gewissheit, dass am Anfang eines Bildes immer schon ein anderes Bild steht. Die neuzeitliche Idee einer linearen Fortschrittsgeschichte der Kunst, die sich als Abfolge von Neuheiten immer wieder überbietet, ist spätestens seit den 1960er-Jahren obsolet geworden. Begriffe wie Differenz, Wiederholung und Aneignung haben die modernistischen Paradigmen der Originalität, Authentizität und Autorschaft weitgehend abgelöst und antworten auf die durch Massenmedien radikal veränderten Rezeptions- und Produktionsformen. Seit einigen Jahren erfährt die Kunst der Wiederholung und die damit verbundene Frage nach Originalität neuerliche Aufmerksamkeit. [1]

Hier ist auch die Dissertation von Julia Gelshorn zu verorten, in deren Titel bereits eines der Hauptwerke des Poststrukturalismus anklingt. [2] Die Verfasserin, die zwischenzeitlich einen Ruf auf die neu geschaffene Professur für zeitgenössische Kunstgeschichte an die Universität Freiburg (CH) angenommen hat, untersucht an den Werken von Gerhard Richter und Sigmar Polke die künstlerischen Strategien der Wiederholung. Dies geschieht nicht von ungefähr, haben sich die beiden deutschen Maler in ihren Werken doch immer wieder und auf ganz unterschiedliche Weise mit Vorbildern aus der Kunstgeschichte auseinandergesetzt und sich diese durch Zitat, Imitat oder Kopie angeeignet. Ein Schwerpunkt der Studie liegt auf den 1960er- und 1970er-Jahren, wobei sowohl "diejenigen Werke untersucht [werden], die sich als markierte Referenzen auf einzelne Kunstwerke verstehen lassen, und andererseits jene, welche aufgrund visueller Ähnlichkeiten, theoretischer Referenzen oder anhand des Bildtitels auf kunsthistorische Stile, Gattungen, Modelle des Bildes oder kunsttheoretische Diskurse verweisen." (11) Zunächst analysiert Gelshorn die "Strategie der Rückbezüge auf die Geschichte der Kunst über die Aneignung von 'Vorbildern'" (12) exemplarisch an zwei Werkgruppen, in denen beide Künstler Gemälde 'alter Meister' aufgreifen (Gerhard Richter, Verkündigung nach Tizian, 1973; Sigmar Polke, der sich im gleichen Jahr in der Gemeinschaftsarbeit 'Original + Fälschung' mit Achim Duchow auf eine Reihe gestohlener 'Meisterwerke' bezieht). Gemäß des immensen Gegenstandsbereiches folgen zum Zwecke der kontextuellen Verortung kenntnisreiche Ausführungen zu anderen künstlerischen Positionen, zur zeitgenössischen Rezeption in der Kunstkritik, zu kunsttheoretischen und gesellschaftlichen Diskursen sowie zu Selbstaussagen und Schriften der Künstler.

These ist es, dass es den beiden Malern - in Abgrenzung zu Pop Art und Appropriation Art [3] - weniger um den reproduzierenden Nachvollzug des Originals bzw. um die gänzliche Aufhebung der Differenz zwischen Original und Wiederholung geht (223), als vielmehr um eine ästhetische Transformation des Vorbilds, die programmatisch auch die Andersartigkeit ins Bild rückt. Gerade bei Richters bewusster Verunklärung des übertragenen Bildmotivs durch Farbverwischung (36) oder durch Polkes Betonung der individuellen Künstlerhandschrift, die selbst Übertragungsfehler der Bildvorlage per Hand überträgt und auf diese Weise re-semantisiert (53), behaupten die Werke gegenüber der Vorlage eine ambivalent-widersprüchliche Eigenständigkeit: "Während dabei einerseits der Zufall als Legitimationsinstanz des künstlerischen Schaffens bemüht und die künstlerische Subjektivität und Expressivität in der Wiederholung von Bildern unterlaufen wird, sind die Spuren der vermeintlich 'verschwindenden' Künstlersubjekte aus den Gemälden nie gänzlich getilgt, sondern werden zugleich in den Dienst einer 'Bildmacht' gestellt, die sich gerade ein Wechselspiel von Regel und Regellosigkeit zunutze macht." (23)

Die Kunst der Aneignung bei Richter und Polke besteht daher nicht in einer prinzipiellen Negation von Autorschaft, sondern vielmehr im Prozess einer immer wieder neu stattfindenden individuellen Anverwandlung und eigenen Annäherung. Die strategische Aneignung fremder Bildlichkeit erfolgt damit keineswegs als Beleg, sondern wider das von der Postmoderne vielfach zitierte Ende der Geschichte: als Fortschreibung von Geschichte, verstanden nicht als Abfolge von Novitäten, sondern von subjektiven Bezugnahmen und individuellen Kommentaren, durch die das Vorbild palimpsestartig durchscheint und immer neuen Kontexten ausgesetzt wird. Der Künstler erscheint nicht als voraussetzungslos aus sich selbst heraus schaffendes Genie, sondern als produzierender Rezipient bzw. rezipierender Produzent innerhalb eines Gesamtzusammenhanges. Das bei Polke oft ironisch-persiflierend, bei Richter eher abstrahierend verwandelte Zitat eines Vorbilds bringt damit zweierlei zur Anschauung. Deutlich wird sowohl das Eingebundensein des Künstlers in ein historisches Geflecht komplexer Beziehungen und Traditionen, wie auch gleichzeitig sein subjektiv-kreativer Umgang damit. Im "wechselseitigen System der Bedeutungserzeugung" (25) bleibt es nicht aus, dass die beiden Künstler im Kontext von Postmoderne und Posthistoire mit unterschiedlichen Begründungen für verschiedene Diskurse vereinnahmt worden sind, wie Gelshorn in einem rezeptionsgeschichtlichen Überblick am Beispiel von Douglas Crimp, Craig Owens, Benjamin Buchloh, Hal Foster u.a. darlegt (224ff.).

Sie selbst jedoch erkennt eher den "Versuch, eine ambivalente Schwellenposition einzunehmen, die sich als 'Scharnier' zwischen widersprüchlichen Standpunkten entwirft, ohne diese zu überwinden oder zu synthetisieren." (23) Einer klaren Zäsur zwischen Moderne und Postmoderne wird damit eine deutliche Absage erteilt. Nicht zuletzt indem Polke und Richter "Geschichtlichkeit selbst thematisieren" (236), können ihre Kunstbezüge auf mehreren Ebenen "als Stellungnahme zu einem System verstanden werden, dem sie selbst angehören - ein System, das sie gleichzeitig reflektieren und 'bedienen'." (252)

Julia Gelshorn ist in ihrer Studie nur vordergründig den Strategien der Wiederholung im Werk von Richter und Polke auf der Spur. Tatsächlich entfaltet sie ein beeindruckendes Panorama der zeitgenössischen Kunstgeschichte seit den 1960er-Jahren, das dem Leser die wichtigsten Diskurse in souveräner Klarheit erschließt und in ausführlichen Fußnoten sowie umfassenden Literaturangaben zur weiteren Lektüre empfiehlt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2001; Wolfgang Ullrich: Raffinierte Kunst. Übungen vor Reproduktionen, Berlin 2009; Ausst.Kat. Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, hrsg. v. Ariane Mensger, Bielefeld 2012.

[2] Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Aneignung, München 1992 (orig. 1968).

[3] Vgl. Elaine Sturtevant, die sich bereits in den 1960er-Jahren die "Flower"-Bilder von Andy Warhol aneignete, indem sie diese mit den Originalsieben nachdruckte; vgl. auch Sherrie Levine, die 1981 Fotografien präsentierte, welche Aufnahmen von Walker Evans aus den 1930er-Jahren 1:1 reproduzieren.

Rezension über:

Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München: Wilhelm Fink 2012, 312 S., ISBN 978-3-7705-4273-4, EUR 34,90

Rezension von:
Ulli Seegers
Institut für Kunstgeschichte, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Ulli Seegers: Rezension von: Julia Gelshorn: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München: Wilhelm Fink 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/04/19900.html


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