Das vierte Jahrhundert v. Chr. war eine Zeit tiefgreifenden intellektuellen Wandels: Mit der Gründung von Philosophenschulen in Athen kam es zu einer Institutionalisierung spezifischer Denkformen und Lebensweisen (bios theoretikos), die schließlich zur Autonomisierung eines klar nach außen hin abgegrenzten philosophischen Feldes führte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die 'große Platonische Grenzziehung' (Foucault), die erstmals eine rigorose Trennung von sophistisch-rhetorischem und philosophischem Denken forcierte. Isokrates ist lange als 'Verlierer' dieser Auseinandersetzung interpretiert worden: Während es Platon gelang, den Begriff der Philosophie für seine eigene intellektuelle Betätigung zu okkupieren, galt Isokrates trotz seines Anspruchs, eine lebenspraxisnahe Philosophie zu treiben, schon in der Antike als Redner bzw. Redenschreiber, nicht als Philosoph. Allerdings wäre es natürlich seltsam, wenn Denker, die gleichzeitig in derselben Stadt Schulen unterhielten, deren Schülerschaft offenbar nichts dabei fand, sich in einer Art 'School-Hopping' mit möglichst vielen unterschiedlichen Lehren bekannt zu machen, keinerlei Notiz voneinander genommen hätten. Gerade der 'semantische Kampf' (Koselleck), der zwischen diesen Denkern um den Begriff der Philosophie geführt wurde, war ja nur deshalb möglich, weil sie die Ansichten und intellektuellen Praktiken ihrer Gegner kannten und auf diese Bezug nahmen.
Tarek Wareh geht es jedoch um mehr als nur um den Nachweis, dass sich Isokrates und Philosophen wie Platon und Aristoteles kritisch bis polemisch mit den Lehren des jeweils anderen auseinandersetzten. Vielmehr möchte er zeigen, dass Isokrates das Denken seiner philosophierenden Zeitgenossen auch positiv befruchtete und ihnen insgesamt weniger fern stand, als es die starre Dichotomie von Rhetorik auf der einen und Philosophie auf der anderen Seite suggeriert. Das Ziel von Warehs Buches ist somit, die "professional, literary, political, and theoretical links between the school of Isocrates and the schools and careers of recognized philosophers such as Plato and Aristotle" (1) zu untersuchen. Dabei kann er durchaus plausibel machen, dass zahlreiche Berührungspunkte existierten, vor allem auf der Ebene der Schüler und in Hinblick auf jene philosophischen Texte und 'Lehrprogramme', die sich mit Rhetorik und Ethik befassten. Diese Beobachtungen fügen sich jedoch nicht zu einem kohärenten Ganzen, sondern verbleiben auf der Stufe einer Reihe von Einzelstudien, bei denen die argumentative Verbindung und Verdichtung weitgehend fehlt. So bietet bezeichnenderweise das kurze, als "Conclusion" (197-208) titulierte Schlusskapitel nicht etwa ein zusammenfassendes Fazit, sondern einen Ausblick auf die Isokratesrezeption in der Renaissance.
Das Bindeglied zwischen den einzelnen Kapiteln bildet Warehs Begriff der "'politics' of intellectuals" (3) bzw. "'politics' of scholastic activity", der weit genug gefasst ist, um nahezu jede denkbare Interaktionsform darunter subsummieren zu können: "The term 'politics' helps us to see the individuals we are studying as interconnected, interested, and interdependent actors in a social space defined by their community, competition, and mutual effects on each other's self-fashioning and careers, rather than as vehicles of pure intellectual effort." (7) Gestützt auf diesen äußerst diffusen Begriff von 'politics' und unter Anlehnung an Bourdieus Feldtheorie werden Isokrates und die Philosophen als vorrangig an der eigenen Position innerhalb eines gemeinsamen intellektuellen Feldes interessierte und daher in fortwährende Status- und Stellungskämpfe verstrickte Akteure interpretiert (7-8; ausführlicher: 115-119). Dieser Ansatz , so Wareh, erlaube es, den "impact of purely political power on the field of philosophy" (116) in den Blick zu nehmen, ohne dabei auf die von der Forschung längst ad acta gelegte Deutung zurückgreifen zu müssen, dass Philosophen und vor allem philosophische Theorien einen direkten Einfluss auf die praktische Politik in der griechischen Welt des 4. Jahrhunderts ausgeübt hätten. [1]
Der Band gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil (11-111) werden Berührungspunkte zwischen Isokrates, Aristoteles und Platon auf der Ebene ihrer Schriften praktischen Ethik und Lebensführung behandelt; Wareh konzentriert sich dabei auf die Nikomachische Ethik, bezieht aber auch den aristotelischen Protreptikos und die Aussagen zur Rhetorik und zum Redner Isokrates in Platons Phaidros mit ein. So überzeugend die These ist, dass gerade Aristoteles' relativ praxisnah angelegte Ethik und Rhetoriktheorie Parallelen zu Isokrates' Schriften aufweisen oder gar direkt von diesen beeinflusst wurden, wäre es dennoch sinnvoll gewesen, die beiden Denker nicht isoliert zu betrachten, sondern innerhalb eines breiteren Feldes der 'gehobenen' sophistisch-rhetorischen Bildung zu verorten. Hinzu kommt, dass auch Isokrates' eigene Schriften viel zu wenig in die Untersuchung einbezogen werden; stattdessen konzentriert sich Wareh stark auf die Rede An Demonikos (42-46), deren Echtheit zweifelhaft ist.
Im zweiten Teil (113-195) werden sodann einzelne "School Creatures" (vor allem Speusippos und Isokrates sowie deren Schüler) in Hinblick auf die vielfältigen Beziehungen zwischen "Literary Competition, Philosophy, and Politics" untersucht. Dabei fällt auf, dass Wareh als einzigen Bezugspunkt der Philosophen innerhalb des politischen Feldes den angeblichen "all-important pole of the political world, the Macedonian court" (131) ausmacht. Dabei bleibt offen, ob dies daran lag, dass die 'politische Welt' des 4. Jahrhunderts tatsächlich einseitig von Makedonien dominiert wurde, oder ob dieser Eindruck nicht doch eher eine Folge der spezifischen Art war, wie 'Intellektuelle' Politik machten - indem sie sich nämlich dem Klischee entsprechend als 'weiser Ratgeber' an einen Alleinherrscher wandten. In der Demokratie gab es offenbar keinen Platz für solche selbsternannten Experten. Welche Rolle Isokrates und seine Zeitgenossen innerhalb des politischen Feldes der athenischen Demokratie innehatten, wird jedenfalls nicht erörtert. So entsteht insgesamt der Eindruck, dass zu viele Fragen offen bleiben und zu viele Detailfragen zu ausführlich diskutiert werden, ohne dass deren Bedeutung für die grundlegende These der Arbeit deutlich würde.
Anmerkung:
[1] Als Vertreter dieser älteren Deutung können exemplarisch etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon. Sein Leben und sein Werk, 2 Bde., Berlin 1919 und Frank L. Vatai: Intellectuals in Politics in the Greek World. From Early Times to the Hellenistic Age, London 1984, sowie die zahlreichen Schriften Slobodan Dušanićs angeführt werden. Dagegen argumentiert haben Peter A. Brunt: Plato's Academy and Politics, in Ders.: Studies in Greek History and Thought, Oxford 1993, 282-342 und vor allem Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994 (= Hermes Einzelschriften; 66).
Tarik Wareh: The Theory and Practice of Life. Isocrates and the Philosophers (= Hellenic Studies; 54), Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2012, VIII + 236 S., ISBN 978-0-674-06713-4, GBP 18,95
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