Unter den Werken der kastilisch-leonesischen Geschichtsschreibung im Spätmittelalter nehmen die in herrscherlichem Auftrag verfassten Königschroniken einen herausragenden Platz ein. Ausgehend von der im Auftrag Alfons' X. (1252-1284) entstandenen Primera Crónica General entwickelte sich in Kastilien eine über Jahrhunderte recht kontinuierlich fortgeführte Hofchronistik, deren Blütezeit im 14. und 15. Jahrhundert erreicht wurde, als etliche (früh)humanistisch gebildete Historiographen am Werk waren, die zugleich in herrscherlichen Diensten standen und zumeist höchste politische Ämter bekleideten.
Weniger den einzelnen Chroniken als vielmehr deren Verfassern und ihrem Verständnis von Geschichtsschreibung nähert sich Béatrice Leroy in einem anregenden Essay, in dem sie neben den eigentlichen Königschroniken auch das weitere Œuvre dieser Autoren miteinbezieht. Die Form des Essays ermöglicht ihr dabei einen recht persönlichen Zugang zum Thema. Ihr geht es weniger um eine systematische literaturgeschichtliche Analyse, wie sie seit einigen Jahren in einer Bonner Dissertation vorliegt [1], vielmehr fragt sie danach, warum und wie die Hofhistoriographen Geschichte schrieben. Die von ihr untersuchten Autoren sind ihr so nicht bloß Gegenstand distanzierter Betrachtung, sondern, wie vor allem in der Schlussbemerkung (98) deutlich wird, zugleich Vorbilder und Ratgeber für das eigene Schaffen. Methodisch basieren Leroys Überlegungen vor allem auf einer Auswertung der Prologe und sonstiger Reflexionen der Autoren in ihren Werken. Die einschlägigen Passagen werden dem Leser dabei in Auszügen und in französischer Übersetzung dargeboten. Zwei längere Texte, ein Brief Diego de Valeras an Juan Hurtado de Mendoza und ein Auszug aus der Crónica del rey don Pedro des Pero López de Ayala finden sich in Anhängen wieder.
Das Bändchen gliedert sich neben Einleitung (1-4) und Conclusion (97f.) in sechs Kapitel. Im ersten Kapitel "Origines" (5-16) verweist Leroy auf das für die spätmittelalterlichen Chronisten maßgebliche, bereits von Isidor von Sevilla († 636) vermittelte Idealbild des Historikers als rhetorisch geschulten Zeugen und Vermittler selbst erlebter Ereignisse. Eine besondere Prägung erfuhr die kastilische Geschichtsschreibung daneben durch König Alfons X. († 1284), besonders durch dessen kompilatorische Arbeitstechnik sowie das Bemühen um Auswahl der glaubwürdigsten (Original)quellen. Ferner durch die damals vollzogene Rückbindung der kastilischen Geschichte an die römische Kaiserzeit, die eine verstärkte Beschäftigung mit den antiken Autoren nach sich zog, aus deren Erzählungen (Gründungsgeschichte Roms, Trojasage, Heraklesmythos) man die Ursprünge auch der spanischen Geschichte ableitete.
Die eigentlichen Protagonisten des Essays, nämlich die zwischen Alfons XI. († 1350) und Isabella I. († 1504) schreibenden Chronisten Fernán Sánchez de Tovar, Pero López de Ayala, Fernán Pérez de Guzmán, Diego de Valera, Diego Enríquez del Castilla, Alfonso de Palencia und Hernando del Pulgar, läßt Leroy im zweiten Kapitel "Contextes et prologues" (17-31) zu Wort kommen. Darin skizziert sie nicht nur deren Herkunft, das Verhältnis zum Herrscher und ihre wichtigsten Werke, sondern arbeitet auch deren Selbstverständnis als Historiker heraus. Mit welchen Intentionen die Chronisten im Einzelnen schrieben, wird in den folgenden Kapiteln exemplifiziert, die jeweils einen bestimmten Autor ins Zentrum rücken. Kapitel 3 (Chronique d'un roi meurtrier, 33-51) beschäftigt sich mit Pero López de Ayala (1332-1407), Kanzler Heinrichs III. und Chronist der Trastámara-Dynastie, dessen Historia de los reyes de Castilla mit dem letzten kastilischen König aus dem Hause Burgund, Peter I. (1350-1369), einsetzt. López de Ayala versah seine Chronik für die Zeit des Bürgerkriegs mit derart vielen Negativexempeln aus dem Leben Peters I. (es werden 168 Morde aufgezählt), dass sie geradezu paränetischen Charakter annimmt und einem Fürstenspiegel unter negativen Vorzeichen ähnelt. Sie ist gleichsam ein Lehrstück über die Wandlung des Königs in einen Tyrannen, das den siegreichen Nachfolgern aus der Trastámara-Dynastie womöglich auch als Mahnung dienen sollte.
Kapitel 4 (Ferdinand, la belle mémoire, 53-63) behandelt das Gegenstück zu diesem Negativbeispiel. Fernán Pérez de Guzmán (1377-1460), Neffe López de Ayalas und Chronist unter Johann II., hinterließ in seinem Werk das Portrait eines modellhaft guten Fürsten, nämlich Ferdinands d'Antequera, Onkel Johanns II. und während dessen Minderjährigkeit auch Regent, bis er 1412 selbst zum König von Aragón erhoben wurde. Das von Pérez de Guzmán explizit als Fürstenspiegel bezeichnete Herrscherportrait hat freilich seine gewünschte Wirkung nicht entfaltet: Der mutmaßliche Adressat Johann II. (1406-1454) war ein schwacher König, der die Regierungsgeschäfte weitgehend seinem Günstling Alvaro de Luna überließ. Diesem, Alvaro de Luna, und dessen Darstellung durch Pérez de Guzmán ist das fünfte Kapitel (Un cas d'ècole: la question de la privauté, 65-83) gewidmet. Den rasanten Aufstieg und jähen Fall des Günstlings hat Pérez de Guzmán nicht nur in seiner Chronik, sondern auch in seiner Biographiensammlung Generaciones y semblanzas verarbeitet, in welcher er Alvaro de Luna als moralisches und ins Generelle gewendetes Negativbeispiel für Gier und Anmaßung vorstellt.
Das letzte Kapitel (Leçon pour une jeune reine, 85-95) blickt auf die Zeit Isabellas I. und ihres Chronisten Hernando del Pulgar. Der humanistisch gebildete königliche Sekretär, der mit den biographisch-historischen Werken Plutarchs und Valerius Maximus' bestens vertraut war, eiferte den antiken Vorbildern vor allem in dem Isabella gewidmeten Werk Claros varones de España nach, das der jungen Königin berühmte und zum Exempel taugende Persönlichkeiten ihrer Zeit vorstellen sollte. Hernando del Pulgar, der die Königin in seinem Werk an mehreren Stellen direkt anspricht und auch sonst persönliche Überlegungen in die Darstellung einfließen lässt, ist in seinen Wertvorstellungen besonders gut zu fassen. Geschichtskenntnis ist für ihn neben theologischer und poetischer Bildung, neben Ehrgefühl und dem Streben nach dem Gemeinwohl der beste Nährboden, aus dem herausragende Persönlichkeiten erwachsen können (vgl. 94f.).
Am Ende der Lektüre verfestigt sich beim Leser der Eindruck, dass den kastilischen Chronisten vor allem die (charakter)bildende Funktion von Geschichtsschreibung wichtig war, und sie diese nicht allein über den Inhalt zu transportieren suchten, sondern, geschult an antiken Vorbildern, auch über die Beherrschung der literarischen und rhetorischen Form - gleichsam Bildung durch ästhetischen Genuss. Ein Konzept, das bei der modernen, kritischen Geschichtswissenschaft zumindest nicht im Vordergrund steht. Dass Béatrice Leroy sich gleichwohl als Historikerin in diese Tradition stellt und daraus Anregungen für das eigene Schaffen bezieht, das ist nach Meinung des Rezensenten das eigentlich Bemerkens- und Bedenkenswerte an diesem Essay.
Anmerkung:
[1] Saskia von Hoegen: Entwicklung der spanischen Historiographie im ausgehenden Mittelalter. Am Beispiel der "Crónicas de los Reyes de Castilla Don Pedro I, Don Enrique II, Don Juan I y Don Enrique III" von Pero López de Ayala, der "Generaciones y semblanzas" von Fernán Pérez de Guzmán und der "Crónica des los Reyes Católicos" von Fernando del Pulgar (Hispanistische Studien; 31), Frankfurt a. M. 2000.
Béatrice Leroy: L' historien et son roi. Essai sur les chroniques castillanes, XIVe-XVe siècles (= Essais de la Casa de Velázquez; Vol. 6), Madrid: Casa de Velazquez 2013, VIII + 116 S., ISBN 978-84-96820-87-6, EUR 18,00
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