In den sogenannten Bibelwissenschaften (und darüber hinaus) zählt der Kommentar zum Leitmedium exegetischer und hermeneutischer Forschung und Lehre. [1] Dieser Umstand rechtfertigt die Fortführung bestehender und die gleichzeitige, stetige Einführung neuer wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Kommentarserien besonders zum Alten und Neuen Testament im deutschsprachigen, anglofonen, frankofonen und skandinavischen Sprachraum. Kommentare bilden nicht nur exegetische Forschung ab, sondern stimulieren und kommunizieren sie zugleich: Die fortlaufende Entstehung neuer Kommentare zu parabiblischen, 'apokryphen' und patristischen Texten und Textcorpora, ja sogar zu hypothetisch rekonstruierten Schriften wie der Logiensammlung Q ist ein Beleg dafür, wie textwissenschaftliche Forschung im weiteren Sinne nicht nur dokumentiert und reflektiert, sondern auch auf die Zukunft hin stimuliert werden soll; die multilinguale Verbreitung von Kommentaren zeigt, dass eine wirkungsvolle Wissenschaftskommunikation im Bereich der Bibelforschung vor allem dem Medium des Kommentars zugetraut wird.
Die im Umkreis der bibelwissenschaftlichen Forschung entstehenden Kommentare und Kommentarserien sind in ihren Ansprüchen und Funktionen allerdings vielschichtig: Sie legen in unterschiedlichem Maße Gewicht auf editorische und philologische Methoden zur Textentstehung und Textbeschreibung; sie setzen verschiedene diachrone und synchrone Methoden der Textanalyse und Textinterpretation voraus, die besonders der religionsgeschichtlichen, der form- und gattungsgeschichtlichen Einordnung der Texte in antike und moderne Religions- und Literaturgeschichten dienen. Dazu kommen rezeptionsgeschichtliche und hermeneutische Fragestellungen, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die christliche Tradition des Kommentierens, die bereits im 2. Jahrhundert einsetzte (Heraklion / Heracleon Philologus zum Johannesevangelium: siehe dazu auch im vorliegenden Band die solide und inspirierende Darstellung von Bernhard Lang: "Die Bibelkommentare der Kirchenväter [ca. 200-600]. Kleines Kompendium mit Forschungsstand und Beispieltexten", 57-97, bes. 62ff.), auf eine lange und durchaus erfolgreiche Geschichte der Deutung und Applikation biblischer Texte in Kirchen (siehe dazu: Eckart Otto: "Kommentieren in den Bibelwissenschaften. Ein ökumenischer Dienst an der Theologie im 21. Jahrhundert", 347-361) und Kultur hinein zurückblickt. Kommentare zu biblischen Schriften haben nicht zuletzt eine katechetische Funktion: Sie stellen "Intertextualität zur Bibel als Bezugsquelle her" [2], eröffnen und bestimmen aber auch ihrerseits einen selbständigen wissenschaftlichen Diskursrahmen.
Das Phänomen bibelwissenschaftlichen Kommentierens ist keineswegs singulär - es verbindet bibelwissenschaftliche, theologische und judaistische (siehe dazu: Ronen Reichman: "Kommentare als diskursive Einheiten in der rabbinischen Literatur. Beispiele aus Midrash, Mishna und Talmud", 99-124) Forschungsarbeit mit derjenigen in der Jurisprudenz. Das gilt zum Beispiel im Blick auf die Frage nach der Autorisierung der Referenztexte, Methoden der Kommentierung oder institutionelle Bezüge (so Nils Jansen: s.u., 3ff. und David Kästle: s.u., 403ff.). Kommentare werden in den Bereichen von "Recht und Religion" geschrieben. Gerade im interdisziplinären Vergleich lässt sich zeigen, wie der Kommentar in den genannten Fachbereichen von der Antike bis in die Gegenwart seine für wissenschaftliche Theoriebildung wie praktische Textauslegung grundlegend wichtige Bedeutung entwickelt und behält. Das gilt für Bibelwissenschaften (siehe bereits oben) und dogmatische oder historische Theologie (siehe dazu: Mechthild Dreyer: "Die Kommentare zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Eine Literaturgattung im Spannungsfeld theologischer Kontroverse und Systematik", 125-140; Peter Opitz: "Von der annotatio zum commentarius - Zur Wiedererfindung des Bibelkommentars in der Reformation", 187-205) genauso wie für die Rechtswissenschaften: Von Domitius Ulpianus (siehe dazu: Ulrike Babusiaux: "Der Kommentar als Haupttext. Zur Gattung der libri ad aedictum Ulpians", 15-55) über die frühneuzeitliche Rechtsprechung (siehe dazu: Andreas Thier: "Zwischen Exegesesammlung und Ordnungsentwurf. Zur Kommentarliteratur des gelehrten Rechts in der Frühen Neuzeit", 207-247) und Gesetzeskommentare des 19. und 20. Jahrhunderts (siehe dazu: Thomas Henne: "Die Entstehung des Gesetzeskommentars in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert", 317-329) bis hin zu aktuellen Fragen der Rechtsauslegung (siehe dazu: Gralf-Peter Calliess: "Kommentar und Dogmatik im Recht. Funktionswandel im Angesicht von Europäisierung und Globalisierung", 381-392).
Nicht zufällig kommt es - wie das Beispiel von Francisco de Vitoria zeigt (siehe dazu: Tilman Repgen: "Der Summenkommentar des Francisco de Vitoria", 249-275) - in der europäischen Geistesgeschichte und insbesondere auch im Kirchenrecht (siehe dazu: Michael Böhnke: "Die 'armen Verwandten'. Kanonistische Kommentare in der Moderne, dargestellt am Beispiel des Münsterischen Kommentars zum Codex Iuris Canonici", 331-345) immer wieder zur Überschneidung von theologischer und juristischer Lehrbildung, was David Kästle abschließend ausführlich und dabei äußerst differenziert darstellt ("Juristische Kommentare - theologische Kommentare. Von der Farbe des Chamäleons", 393-450). Auch im Blick auf die Formenmerkmale des Kommentierens lassen sich komparative Untersuchungen vornehmen (siehe dazu: Susanne Lepsius: "Fließende Grenzen juristischer Kommentierungstätigkeit im Spätmittelalter. Glosse - Kommentar - Repetitio", 141-186).
Der vorliegende Band ist nicht genug dafür zu loben, dass er diese - sowohl für die Theologie als auch für die Rechtswissenschaften wichtige - Einsicht in die Bedeutung des Kommentars in einer Aufsatzsammlung bearbeitet, die auf ein Symposion von Theologen und Rechtshistorikern im März 2012 in Münster zurückgeht. Der Fokus bei dieser vergleichenden interdisziplinären Betrachtung des Kommentars als einer spezifischen Literaturform (s.u. zu Nils Jansen) liegt - wie Georg Essen und Nils Jansen in einem vorausgehenden Projekt herausgestellt haben [3] - auf den bereits vorliegenden oder durch die Kommentierung weiter vorangetriebenen "Dogmatisierungsprozessen". So stellt auch Jansen einleitend heraus, dass der Vorgang des Kommentierens grundsätzlich eine Autorität des "Referenztexts" voraussetzt ("Kommentare in Recht und Religion: Eine Einführung", 1-14, 3). Eine solche Autorisierung tendenziell als Dogmatisierung zu beschreiben, birgt allerdings die Gefahr, allein schon im Bereich theologischer Forschung die verschiedenen genres des Kommentars, die einerseits in der an sich schon äußerst komplexen bibelwissenschaftlichen Forschung (siehe ausführliche Überlegungen dazu oben) und andererseits in der systematisch-theologischen Lehre und Lehrbildung begegnen, in Hinsicht auf Anspruch und Funktion zu nahe aneinanderzurücken.
Differenzierungen aber sind - innerhalb (angedeutet bei: Jan Rohls: "Schöpfung und Fall. Das Wechselspiel von historisch-kritischer Exegese und Dogmatik anhand der Genesiskommentare im 18. und frühen 19. Jahrhundert", 277-296) und außerhalb der theologischen Forschung - notwendig. Hier wäre es gerade gewinnbringend, die Heuristik, mit der etwa ein Kirchenkonzil Kommentierung erfährt (siehe dazu: Roman A. Siebenrock: "Dem Ereignis verpflichtet - in Treue zu Text und Gestalt des Konzils. Systematische Erwägungen zu 'Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil'", 363-379), mit dem Forschungsinteresse eines auf eine biblische Schrift bezogenen exegetischen Kommentars (etwa auch in der Herder-Reihe) zu vergleichen. Um die jeweils fachspezifische Funktion des Kommentars in "Recht und Religion" umfassend und zugleich differenziert zu beschreiben, fehlt ein weiterer Vergleichspunkt: die für die griechisch-römische Literatur typischen und mit der Homer-Philologie einsetzenden Autoren- und Werk-Kommentare. Hier wäre noch einmal zu fragen, wieweit literarische Autorisierung, philologische Methodik, religiöse Sprach- und Ausdrucksformen sowie Kanonisierung gemeinsame Voraussetzungen und / oder Qualitäten eines Textes sind, der sich dann im Verhältnis zum Kommentar als Referenztext etabliert (hat).
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind letztlich als Fallstudien zu lesen, die keine enzyklopädische Gesamtschau auf das Kommentarwesen in Theologie und Jurisprudenz oder seine historische Entwicklung bieten - auch wenn die Gliederung historisch angelegt ist. Die Sammlung ist zudem unvollständig: Bedeutende Kommentatoren wie Philo von Alexandrien (im antiken Judentum) oder Philipp Melanchthon (in der Reformationszeit) kommen nicht zur Sprache. Formal sei bemängelt, dass die bibliografischen Angaben keine direkten Hinweise auf Verlage und Verlagsorte geben und die vereinzelten Abbildungen - gerade angesichts der äußeren Qualität des Gesamtbandes - eine entsprechend höhere Druckqualität sowie ein eigenes Abbildungsverzeichnis verdient hätten. Unabhängig davon aber bietet der Band für jeden / jede, der / die mit dem Kommentar in Religion und Recht als Autor und Autorin oder Leser und Leserin befasst ist, vielseitige Anregungen, die Heuristik des Kommentierens fächerübergreifend zu betrachten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu auch: Art. Kommentar, in: Lexikon der Bibelhermeneutik, hgg. v. Oda Wischmeyer et al., Berlin / Boston 2009/2013, 330-335.
[2] Vgl. dazu Franz Simmler: Art. Kommentar. VI. Textlinguistisch, in: a.a.O., 334.
[3] Vgl. Georg Essen / Nils Jansen (Hgg.): Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, Tübingen 2011.
Nils Jansen / David Kästle (Hgg.): Kommentare in Recht und Religion. In Zusammenarbeit mit Reinhard Achenbach und Georg Essen, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, XII + 465 S., ISBN 978-3-16-152879-8, EUR 104,00
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