Mit seiner Dissertation legt Georg Kanert eine quantitative Studie zum Professionalisierungsprozess junger Geschichtslehrkräfte vor, welche die Berufseinstiegsphase untersucht und die zentrale Frage nach der Wirksamkeit der Geschichtslehrerausbildung stellt. Damit lässt sich die Arbeit an der Schnittstelle zwischen bildungswissenschaftlicher Professionalisierungsforschung und empirischer Geschichtsdidaktik verorten und füllt mit Blick auf die Fragestellung wie auch das Längsschnittdesign (N=259 Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte aus Baden-Württemberg; Erhebungszeitpunkte = Referendariat, 1. und 2. Berufsjahr) eine Leerstelle innerhalb der Disziplin. In dieser Hinsicht werden die Studie und ihre Ergebnisse sicherlich intensiv zur Kenntnis genommen werden.
Eine besondere Leistung der Arbeit liegt in dem ersten Großkapitel zur theoretischen Rahmung. Unter Berufung auf einen breiten Korpus international ausgerichteter bildungswissenschaftlicher Literatur liefert Kanert einen pointierten Überblick über verschiedene Phasenmodelle der Lehrerprofessionalisierung und ihren Forschungsstand. Dabei überzeugt sein Plädoyer für die Untersuchung der Berufseinstiegsphase. Die Anlehnung an das Modell zur Wirksamkeitsüberprüfung von Fritz Oser, das Standards formuliert und deren Erreichung prüft, ist schlüssig begründet und konsensfähig. Die Anschlussfähigkeit an den bildungswissenschaftlichen Forschungsdiskurs zeigt sich auch in der Fragebogenkonstruktion, die neben den Selbsteinschätzungen zur Verarbeitungstiefe (Für wie kompetent halte ich mich?), Bedeutsamkeit (Für wie bedeutsam halte ich...?) und der Anwendungswahrscheinlichkeit (In welchem Maße werde ich ... in meinem Unterricht beachten?) der fachlichen Standards auch Fragebatterien zur Berufswahlmotivation, Ausbildungskultur sowie zur Problembewältigung im Schulalltag beinhaltet.
Die in diesem komplexen Design erhobenen Daten führen Kanert am Ende zu "Zehn Aussagen zur Wirksamkeit der Geschichtslehrerbildung" (365). Dort attestiert der Autor den jungen Geschichtslehrkräften kein individuelles Lehrkonzept zu besitzen, sich bei der Planung von Unterricht kaum an der geschichtsdidaktischen Theorie, sondern allein an der Praxistauglichkeit zu orientieren. Zusätzlich sei ihr Bild von Lehrerprofessionalität von eher allgemeinen Kriterien geprägt und hinsichtlich der fachlichen Dimension "selbstsuggestiv, weil ihr Wissen um die Funktion fachlicher Denkparadigmen deklarativ bleibt" (369).
Bei solch schweren Geschützen stellt sich die Frage nach den Daten und ihrer Interpretation, auf die Kanert seine Kritik an den Ausbildungsinstitutionen, aber auch den Geschichtslehrkräften selbst, die weder das, "was sie gelernt haben, theoretisch verstanden [haben], noch [...] die Konzepte, die die Schlagworte transportieren, praxistauglich werden" (297) ließen, stützt.
Wird bei der Konstruktion des Fragebogens sinnvoll zwischen der Theorie-, Planungs- und Handlungsebene unterschieden, so legt ein Blick auf die konkreten Items (Standards) erste Problemfelder frei. Der Autor erwähnt zwar die Anlehnung an die curricularen Vorgaben der Lehrerausbildung (Baden-Württemberg), Rüsens Regelkreis historischen Denkens (Theorie) sowie Ansätze von Rohlfes, Schreiber und Sauer (Planungs- und Handlungsebene), ohne jedoch seine Kriterien und Verfahren der Formulierung und Zuordnung von Einzelitems offen zu legen: Warum z.B. wird die Aussage "die Zugänge (z.B. Gender, Alltag) und die Ergebnisse der historischen Forschung im Hinblick auf die Gestaltung von Bildungsprozessen zu prüfen" (141) der Theorieebene und nicht der Planungsebene zugeordnet? Inwiefern lässt sich die Erkenntnis, "dass Aussagen über die Vergangenheit aus dem Wahrnehmungshorizont des/der Schreibenden geleitet sind und keine allgemeine Wahrheiten darstellen" (142) graduieren? Wann hat man "ausreichende Kompetenz" (Verarbeitungstiefe) darin erworben und inwieweit kann man eine derartige Erkenntnis im zukünftigen Unterricht nur "ab und zu beachten" (Anwendungswahrscheinlichkeit)? Andere Items beschreiben extrem komplexe und mehrschrittige Operationen. So wird auf der Planungsebene beispielsweise nach den Fähigkeiten "Ziele und Kompetenzen historischen Lernens bei Lernprozessen zu formulieren und diese im Unterricht zu realisieren" (142) gefragt. Die Erläuterung der Itemgenerierung aus geschichtsdidaktischer Theorieperspektive kommt hier zu kurz.
Der umfangreichste Teil der Arbeit widmet sich der Darstellung und Interpretation der Ergebnisse für den ersten Erhebungszeitpunkt. Dabei folgen der Beschreibung der prozentualen Datenbeziehungen meist ein bis zwei konstatierende, jedoch wenig diskursive Aussagen: "Auffällig ist, dass lediglich die Hälfte der befragten die Auseinandersetzung mit Verfahren und Methoden der historischen Erkenntnisgewinnung für 'sehr bedeutend' erachtet bzw. 'häufig beachten' wird, obwohl der Fachunterricht darauf aufbaut. Fachlichkeit spielt in der subjektiven Wahrnehmung der Lehrerausbildung offensichtlich eine untergeordnete Rolle." (229)
Das zentrale Ergebnis der Auswertung, das sich mit der Diagnose einer mangelnden Konzeptkompetenz der Probanden beschreiben lässt, stützt Kanert auf den Befund, dass auf allen drei Ebenen (Theorie, Planung, Handlung) eine Inkohärenz innerhalb der Dimensionen vorliegt, konkret: eine geringe Verarbeitungstiefe deutlich höheren Werten der Bedeutsamkeit und der Anwendungswahrscheinlichkeit gegenübersteht. Die gleiche Argumentation wird auch bei der Ermittlung des zweiten Wirksamkeitsindikators, der Übertragungskompetenz, angeführt. Der statistisch und rechnerisch schlüssige Vergleich der Indizes der jeweiligen Dimensionen mündet in dem Fazit, dass "die jungen Geschichtslehrkräfte [...] professionelle Handlungskompetenzen für bedeutsam und anwendungswürdig [erachten], von denen sie selbst behaupten, sie hätten keine ausreichenden Kompetenzen erworben" (268). Hier wird ein methodologisches Grundproblem der Studie sichtbar: Sie will Kompetenzen erheben, erfragt jedoch Selbsteinschätzungen. Dass Kanert dies bewusst ist, zeigen seine Formulierungen an etlichen Stellen. Eine kritische Diskussion, inwiefern man von letzteren auf erstere schließen kann, bleibt jedoch aus.
Interessante Ergebnisse und Deutungen liefert der folgende Längsschnittvergleich mit den Daten der beiden späteren Erhebungszeitpunkte. Dass die vorher für bedeutsam und anwendungswürdig erachteten Standards nach zwei Berufsjahren tendenziell sparsamer umgesetzt, für nicht mehr derart bedeutsam erachtet werden und - das ist besonders signifikant - die Kompetenz in der Selbsteinschätzung deutlich abgenommen hat, deutet tatsächlich "auf die zunehmende Orientierungslosigkeit vieler Berufseinsteigerinnen und -einsteiger" (359) hin.
So liefert die Studie am Ende interessante und diskussionswürdige Ergebnisse, welche die Bedeutung der komplexen Anforderungen in der Berufseinstiegsphase für die weitere Professionalisierung und die Problematik der Theoriedistanz und Konzeptlosigkeit gegenüber einer dominanten "Erfahrungsempirie" betonen. Selbst wenn man Kanert nicht in all seinen Deutungen und Interpretationen folgen möchte, geben die im letzten Kapitel aufgezeigten Konsequenzen und alternativen Strategien wertvolle Impulse für die Geschichtslehrerausbildung und weitere Forschungsansätze. So könnten vergleichende Studien aus anderen Bundesländern, Untersuchungen mit Gymnasiallehrkräften oder auch qualitative Ansätze interessante Daten zum Professionalisierungsprozess von Geschichtslehrkräften ergeben.
Georg Kanert: Geschichtslehrerausbildung auf dem Prüfstand. Eine Längsschnittstudie zum Professionalisierungsprozess (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 407 S., ISBN 978-3-8471-0239-7, EUR 54,99
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