Im Kontext des bildungspolitischen Postulats eines kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts dominieren mit Forschungsarbeiten zu Schülervorstellungen über (außerschulische) Geschichtsdarstellungen, geschichtskulturelle Analysen von Motiven und Funktionslogik dieser außerschulischen Geschichtsdarstellungen, domänenspezifischer Kompetenzförderung und -messung sowie Lehrerprofessionen gegenwärtig vier zentrale Felder die geschichtsdidaktische Empirie [1]. Geschichtsunterricht gilt zwar nicht mehr als "Black Box" der Geschichtsdidaktik, doch die empirische Erforschung von Unterrichtsgeschehen rückt erst langsam in den Blick.
Vor dem Hintergrund des hier nur grob skizzierten Forschungsstandes beschreitet Christian Spieß mit seiner Göttinger Dissertation sowohl thematisch als auch methodisch vergleichsweise neue Wege [2], wenn er nach dem Einsatz von und dem kompetenten Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht fragt. Mit der Fokussierung auf Unterrichtsgeschehen knüpft Spieß an vorliegende Studien von Peter Gautschi, Johannes Meyer-Hamme oder Holger Thünemann et al. an und erweitert die bislang eher normativ geführte Diskussion über die Güte von Geschichtsunterricht. Spieß intendiert, auf Basis videografierter Unterrichtsstunden Quellenarbeit im Geschichtsunterricht und den damit verbundenen Kompetenzerwerb der Schüler im Umgang mit Quellen zu rekonstruieren (z.B. 13, 14). Im Ergebnis kommt er zu dem Schluss, dass "sich der Umgang mit Quellen im Sample über alle Altersklassen und Jahrgangsstufen hinweg weitestgehend affirmativ bzw. positivistisch beschreiben [lässt, A.K.]: Es wurde mit Texten und Bildern gearbeitet, denen Informationen über die Vergangenheit entnommen wurden" (104).
Das Sample dieser Studie setzt sich aus "fünf Schulen in Niedersachsen" (90) zusammen. Dort dokumentierte Spieß "zwischen November 2009 und Juni 2011 verteilt auf 14 Klassen bzw. Kurse insgesamt 39 Stunden bzw. Doppelstunden bei 11 Lehrkräften" (91). Methodisch basiert diese Studie auf der Dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack [3]. Mit diesem Zugriff soll Geschichtsunterricht als mehrdimensionales Konstrukt ohne direkte Intervention in den Blick genommen werden (85-90).
Zudem zeichnet sich die Studie durch das deutliche Bemühen aus, das Forschungsinteresse an geschichtsdidaktische Kompetenzmodelle (40-46) und Kernlehrpläne rückzubinden (46-60). Allerdings gerät die unterrichtspragmatische Operationalisierung von Kernlehrplänen in Form von schulinternen Curricula, intendierten Lernzielen und leitenden Fragestellungen der ausgewerteten Unterrichtsstunden bei der Ergebnisdarstellung nicht immer umfassend in den Blick. Folglich rekonstruiert Spieß stellenweise weniger Quellenarbeit und Prozesse des Kompetenzerwerbs, sondern evaluiert diese in einem wissenschaftlich-normativen Zugriff (z.B. 103, 105), so dass man den Interpretationen des Autors nicht durchgehend folgen mag.
Dennoch: Diese Studie ist eine anregende Annäherung an eine wichtige Fragestellung. Neben der Funktion systematischer Quellenkritik im Geschichtsunterricht (106-130) und möglichen Hürden quellengestützter historischer Lehr-Lernprozesse (106-120) sensibilisiert sie besonders für die Bedeutung von Lehrerhandeln für Kompetenzerwerb im Geschichtsunterricht. In Analogie zu zentralen Befunden der Hattie-Studie [4] kann Spieß differenziert zeigen, dass neben Struktur und Transparenz des Lernarrangements (z.B. 121-126; 203-222) sowie klaren epistemologischen Konzepten der Lehrperson (z.B. 102-104; 114-115) auch unmittelbare Rückmeldungen an die Lernenden über die Qualität ihrer Beiträge (z.B. 109; 120; 223-230), metakognitive Strategien (z.B. 106-114) und aktivierende Lernaufgaben (z.B. 106-120) den Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen im Geschichtsunterricht beeinflussen.
Angesichts dieser vom Autor differenziert herausgearbeiteten zentralen Bedeutung des Lehrerhandelns für Kompetenzerwerb im Umgang mit historischen Quellen im Geschichtsunterricht wäre im Hinblick auf vertiefende Interpretationen der Befunde dieser Studie abschließend allerdings zu überlegen, ob neben der Rückbindung der Ergebnisse an den aktuellen geschichtsdidaktischen Diskurs über Lehrerprofessionalisierung auch weiterführende Angaben über den Zusammenhang von Unterrichtshandeln, beruflicher Sozialisation, Motivation und Qualifikation der Lehrpersonen der ausgewerteten Unterrichtsstunden sowie zu Planungsentscheidungen, intendierten Lernzielen und eine Befragungen der Lehrkräfte zur Ermittlung subjektiver Theorien über historische Quellen, Darstellungen und Quellenarbeit im Geschichtsunterricht die Ergebnisse dieser Studie fundiert hätten.
Doch auch ohne diese wichtigen Kontextfaktoren ist dieser Studie als Reflexionsrahmen für professionelles Lehrerhandeln über den geschichtsdidaktischen Forschungsdiskurs hinaus auch in der Lehreraus- und Lehrerweiterbildung viel Aufmerksamkeit zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z.B. Monika Waldis / Béatrice Ziegler (Hgg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik. Beiträge zur Tagung "Geschichtsdidaktik empirisch 13", Bern 2015 sowie das Programm der aktuellen Tagung "Geschichtsdidaktik empirisch 15" vom 3. bis 4. September 2015 (aufrufbar auf: http://www.geschichtsdidaktik-empirisch.ch/tagungsprogramm-vorlaeufig) (Stand: 25. Mai 2015).
[2] Bereits Martina Langer-Plän und Helmut Beilner setzten sich in ihren Studien mit dem Quellenbegriff und Quellenverständnis von Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterrichts grundlegend auseinander. Helmut Beilner: Empirische Zugänge zur Arbeit mit Textquellen in der Sekundarstufe I. In: Bernd Schönemann / Hartmut Voit (Hgg.): Von der Einschulung bis zum Abitur. Prinzipien und Praxis des historischen Lernens in den Schulstufen, Idstein 2002, 84-96; Martina Langer-Plän: Problem Quellenarbeit. Werkstattbericht aus einem empirischen Projekt. In: GWU 54 (2003), H. 5/6, 319-336.
[3] Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8. Aufl., Opladen 2008.
[4] John A. Hattie: Visible Learning: A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement, Oxford 2008;für eine Überführung zentraler Befunde der Hattie-Studie in den geschichtsdidaktischen Forschungsdiskurs siehe Marko Demantowsky / Monika Waldis: John Hatties "Visible Learning" und die Geschichtsdidaktik. Grenzen und Perspektiven. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 13 (2014), 100-116.
Christian Spieß: Quellenarbeit im Geschichtsunterricht. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzerwerb im Umgang mit Quellen (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 296 S., ISBN 978-3-8471-0301-1, EUR 44,99
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