In den USA meldet sich derzeit eine Generation von Osteuropahistorikern zu Wort, die neben einer reichen empirischen Erfahrung über hervorragende Kenntnisse der osteuropäischen Sprachen verfügen. Zu ihnen gehört auch Steven Seegel, der in seiner Arbeit am Beispiel des Russischen Imperiums die politische Macht der Kartografie sowie ihr Instrumentalisierungspotenzial aufzeigt.
Der räumliche Schwerpunkt seiner Betrachtungen liegt auf dem Gebiet der Doppelmonarchie Polen-Litauen, welches das westliche Grenzland des Russischen Reiches bildete. Der zeitliche Rahmen umfasst vor allem die Zeit zwischen der dritten Teilung der Adelsrepublik (1795) und der Pariser Friedenskonferenz (1919). Inhaltlich konzentriert sich der Autor auf die Bedeutung der Kartografie für den Prozess des nation buildings respektive state buildings. Da sich das Grenzland seinem Wesen nach aus mindestens zwei angrenzenden Staatsgebieten zusammensetzt, geht der Verfasser neben den Entwicklungen im russischen Teilungsgebiet auch auf die Prozesse in Österreich-Ungarn ein. Dies ist insofern notwendig, als sich nur so die zahlreichen Grenzverschiebungen sowie die multiethnischen Besonderheiten der Region fassen lassen.
Weite Teile der Gebiete, die im Zuge der Teilungen an Russland gefallenen waren, wurden mehrheitlich von Litauern, Ukrainern und Weißrussen bewohnt. In jenen Landstrichen, die zu Österreich-Ungarn kamen, waren ebenfalls Ukrainer und Ruthenen beheimatet. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts bildeten sich bei diesen staatenlosen Völkern Nationalbewegungen heraus, die zur Unterstützung ihrer Interessen die Kartografie als Instrument nutzten. Sie wurden dabei von einzelnen Persönlichkeiten getragen, die zum Teil im Untergrund agierten, aber auch offiziell in den staatlichen Institutionen Russlands und Österreich-Ungarns wirkten. Neben russischen Institutionen, darunter dem Verlag der Familie Il'in, wären polnische Akteure wie Eugeniusz Romer - der Autor zahlreicher Karten, die anlässlich der Pariser Friedenskonferenz erstellt wurden - oder der Schriftsteller und Geograf Wincenty Pol zu erwähnen.
Einleitend behandelt Seegel die Geschichte der staatlichen kartografischen Organe beziehungsweise der wichtigsten Kartenverlage beider Teilungsmächte sowie die Biografien einzelner namhafter Kartografen. Dabei geht er auch auf Aspekte des Wissenstransfers ein und nennt die ausländischen Einrichtungen und Personen, an denen sich die russischen und polnischen Institutionen und Kartografen orientierten. Diese sind neben geografischen Namen und weiteren wichtigen Stichworten mithilfe des Registers gut recherchierbar.
Die gelungene Analyse der Machtstrukturen, die sich im Zusammenhang mit der Kartografie gebildet haben, wird mit zahlreichen Abbildungen von Kartenwerken visualisiert. Die Titel des abgebildeten Kartenmaterials sind in der englischen Übersetzung und in der Originalsprache angegeben. Besonders aussagekräftig sind die ethnografischen, historisch-politischen und Sprachenkarten, deren Aussage je nach Autor und Verlag sehr unterschiedlich und bisweilen sogar gegensätzlich wirken, was zum Beispiel beim Vergleich einiger der abgebildeten Sprachkarten auffällt. Einen anschaulichen Überblick über das Kartenmaterial jener Zeit geben vier Tabellen, in denen die wichtigsten Arbeiten russischer Militärkartografen aus den Jahren 1797-1863, polnische Kartensammlungen, die sich im Besitz von Bibliotheken und Untergrundorganisationen befanden, ethnografische Karten Ostmitteleuropas der Jahre 1848-1911 und litauische Karten aus dem Zeitraum 1887-1918 zusammengestellt sind.
Insbesondere im Zusammenhang mit der Politik des Russischen Reiches gegenüber den "Kleinrussen" und den im 19. Jahrhundert aufflammenden nationalen Bewegungen der Weißrussen und Ukrainern arbeitet Seegel ein interessantes Kapitel der russischen imperialen Geschichte auf, das bis heute von Brisanz ist. Der Verfasser geht dabei nicht nur auf die unterschiedlichen ethnogeografischen Begriffe wie "malorusskij", "velikorusskij", "russkij", "rossijskij", "Rus'" und "Rossija" ein, die in dieser Zeit verwendet wurden, um imperialistische Ansprüche auf die benachbarten Gebiete geltend zu machen, sondern setzt sich auch mit dem europäischen, ethnisch geprägten Begriff der Nation auseinander und zeigt unter anderem anhand von familiären Beziehungen einiger Kartografen auf, dass die Nation ein Konstrukt war, das wenig mit der ethnischen Abstammung zu tun hatte.
Die Beweggründe für das kartografische Engagement der einzelnen Personen reichten von Opportunismus bis hin zu Nationalismus. Besonders schwierig und zum Teil tragisch gestalteten sich nach der Oktoberrevolution die Geschicke der in Russland wirkenden Kartografen, als die Verlage verstaatlicht und viele Kartografen, wie 1938 Arkadz' Smolič, als Abweichler erschossen wurden.
Die 280 Textseiten bieten einen interessanten und abwechslungsreichen Lesestoff, der beginnend mit einer Analyse von Jonathan Swifts utopischen Roman Gullivers Reise, in dem der König von Laputa seine Machtansprüche auf die Nachbarländer mithilfe der Wissenschaften durchsetzt, was von Seegel mit der Rolle der Kartografie im Habsburgerreich und Russland verglichen wird, bis hin zur Untersuchung der polnischen Lobbyarbeit in den USA im Zusammenhang mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1918 und der Pariser Friedenskonferenz von 1919 spannend bleibt. Ein kleiner Wermutstropfen sind allerdings die im Anhang untergebrachten Fußnoten, welche die wissenschaftliche Lektüre und den Zugang zu den dort versteckten Zusatzinformationen erschweren.
Steven Seegel: Mapping Europe's Borderlands. Russian Cartography in the Age of Empire, Chicago: University of Chicago Press 2012, XI + 368 S., ISBN 978-0-226-74425-4, USD 44,00
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