Als im von der deutschen und französischen Regierung ausgerufenen deutsch-französischen Jahr (September 2012 bis Juli 2013) in zahllosen Veranstaltungen des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags gedacht wurde, standen die heute mehr als 2400 deutsch-französischen Städtepartnerschaften oft im Rampenlicht. Es gehört zum politischen Standarddiskurs darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Staaten, sondern auch die Gesellschaften wesentlichen Anteil an der gelungenen Aussöhnung hatten, und dies gilt besonders im Fall der deutsch-französischen Beziehungen. Die historische und politikwissenschaftliche Forschung hat sich ihrerseits schon seit langem für diese Basisstruktur internationaler Beziehungen interessiert. Lucie Filipová greift also in ihrer Dissertation ein aktuelles Thema auf und erweitert den Kenntnisstand. Auch wenn man sich schon oft mit dem Thema befasst hat und die vielschichtigen Ebenen der deutsch-französischen Beziehungen im Blick hat, lohnt sich die Lektüre dieses gut lesbaren Buches.
In Kapitel I gibt die Verfasserin einen ausführlichen Überblick über die bisherige Forschung, wobei sie sinnvollerweise einen multidisziplinären Ansatz wählt und sowohl zeithistorische als auch politik- und kulturwissenschaftliche Arbeiten berücksichtigt. [1] Bei der Schilderung des Forschungsstandes wird deutlich, wo die Autorin ihren eigenen (innovativen) Beitrag sieht. Es handelt sich um eine geschichtswissenschaftliche Arbeit, die zwischen der Sozialgeschichte und der transnationalen Geschichte angesiedelt ist.
Die Darstellung ist dann folgerichtig auch in historische Unterkapitel in chronologischer Reihung angeordnet. Die fünf Epochen, die zwischen 1950 und 2000 in den Blick genommen werden, orientieren sich an den Regierungszeiten der deutschen bzw. französischen Staats- und Regierungschefs. Damit wird suggeriert (und wiederholt auch ausdrücklich unterstrichen), dass es zumindest eine Korrelation, vielleicht sogar eine Kausalitätsbeziehung zwischen diesen beiden Ebenen gibt. Wir werden auf diese lohnende Frage noch zurückkommen.
Verdienstvoll ist, dass Filipová auch die französischen Partnerschaften mit Kommunen in der DDR in die Gesamtschau einbezieht. Diese gehorchten insofern anderen Logiken, als die Dynamik allein von der französischen Seite abhängig war, so etwa vom Wahlsieg von Mitterrand oder dem Machtwechsel in vielen Städten, die dann von kommunistischen Bürgermeistern regiert wurden. Wenn mehrheitlich kommunistisch regierte französische Städte und Gemeinden eine Partnerschaft begründen oder dynamisieren wollten, gelang dies effizienter als sonst. Auf Grund der stark eingeschränkten Reisemöglichkeiten von DDR-Bürgern stellten Besuche aus Frankreich in den Partnerstädten im Osten Deutschlands die häufigste Form des Austausches dar. Die Fallstudie Wismar zeigt aber auch, dass sich Partnerschaften jenseits der Parteizugehörigkeit entwickelten, die auf gegenseitigem Interesse und der Freude an der internationalen Begegnung beruhten.
Die Darstellung der historischen Entwicklung erfolgt dann in jeweils drei Schritten. Zunächst wird die politische Großwetterlage beleuchtet und nach dem Grad der Harmonie zwischen den Regierungsverantwortlichen gefragt. Anschließend erfolgt eine statistische Auswertung der Entwicklung der Städtepartnerschaften. Diese differenzierten Statistiken sind wertvolles Material für alle weiteren Untersuchungen. Und im dritten Schritt wird dann jeweils eine Fallstudie bzw. die Weiterentwicklung der ausgewählten Fallstudien präsentiert. So kann man anhand von insgesamt fünf Beispielen die sich wandelnden Motivationen, Neuerungen, Erweiterungen und Funktionsweisen in den kommunalen Beziehungen nachvollziehen. [2] Für diese Fallstudien hat die Verfasserin eine tief gehende Quellenerschließung betrieben, wobei sowohl nationale Archive als auch kommunale Sammlungen und auch etliche private Dokumente eingesehen wurden. Mit Zeitzeugen hat sie zudem Interviews geführt.
Zwei Aspekte scheinen mir einer vertieften Betrachtung wert. Kann die Autorin über den Zusammenhang zwischen der Ebene der nationalen Regierungen und der Ebene der kommunalen Partnerschaften Genaueres sagen? Gibt es über Motivationen und interne Funktionsweisen von Städtepartnerschaften neue Erkenntnisse?
Die eher kurzen und - politikwissenschaftlich betrachtet - nicht sehr vertieften Darstellungen der deutsch-französischen "Tandems" (1950-1962 Adenauer- de Gaulle; 1963-1973 De Gaulle - Pompidou - Kiesinger - Brandt; 1974-1981 Schmidt - Giscard d'Estaing; 1982-1989 Mitterrand - Kohl, 1990-2000 Mitterrand - Chirac - Kohl - Schröder) zeichnen die politischen Konflikte nach, mit denen sich die Regierungen im europäischen Kontext zu befassen hatten. Es wird wiederholt suggeriert, dass diese "Großwetterlage" einen direkten Einfluss auf die Gründungsbereitschaft von Partnerschaften auf kommunaler Ebene gehabt habe. Auf Seite 132 aber stellt man als Leser leicht überrascht fest, dass die Autorin nicht mehr wollte, als eine Korrelation zu suggerieren. Sie schreibt dort ausdrücklich, dass sie dieser Beziehung nicht vertieft nachgehen wolle. Man fragt sich, warum die Korrelation dann überhaupt suggeriert wird. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive wäre es in der Tat relevant gewesen zu untersuchen, ob und wie die Beziehungen auf höchster Ebene und die Anzahl der neu gegründeten Partnerschaften zusammenhängen. [3] Hier verschenkt Filipová also eine Chance für neue Erkenntnisse und kommt somit nicht über allgemeine Annahmen hinaus.
Die sehr ausführlich recherchierten und nacherzählten Fallstudien wecken beim Leser die Erwartung, dass hier neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Auch in diesem Feld werden allerdings die Erwartungen etwas enttäuscht. Im Falle Duisburgs etwa erfährt man auch trotz der teils privaten Quellen nicht wirklich, wie die Partnerschaft überhaupt zustande gekommen ist. Dabei versucht die Verfasserin durchaus, rationale Kriterien wie Interessenüberschneidungen oder die vergleichbare Größe der Kommunen anzulegen, die aber nicht in allen untersuchten Fällen greifen. Von daher kommt man an der Erkenntnis nicht vorbei, dass persönliche Beziehungen und eher zufällige Ereignisse zu vielen der mehr als 2400 Partnerschaften geführt haben. Das aber wusste man schon aus vielen früheren Arbeiten.
Fazit: Das Buch ist lesenswert, bereitet die Datenbasis gründlich auf und gibt tiefere Einblicke in ausgewählte Partnerschaften und deren Entwicklung über die Jahrzehnte. Von daher wird es ein Bezugspunkt vieler kommender Forschungen sein. Allerdings bleibt die Autorin innovative Antworten auf einige von ihr selbst aufgeworfene Schlüsselfragen schuldig.
Anmerkungen:
[1] Die Dissertation wurde 2012 abgeschlossen und für die Übersetzung nur geringfügig aktualisiert. Deshalb konnten neueste Arbeiten keinen Eingang finden. Siehe etwa den von Stefan Seidendorf herausgegebenen Sammelband: Deutsch-Französische Beziehungen als Modellbaukasten? Zur Übertragbarkeit von Aussöhnung und strukturierter Zusammenarbeit, Baden-Baden 2012 und darin meine eigenen Überlegungen zum Verhältnis von "großer Politik" und der kommunalen Ebene in den deutsch-französischen Beziehungen (133-142).
[2] Bei den fünf Partnerschaften handelt es sich um: Mainz-Dijon; Duisburg-Calais-Wismar; Kirkel-Mauléon; Brombachtal - La Rivière-de-Corps; Bautzen-Dreux.
[3] Zur Debatte um das grundsätzliche Verhältnis von "hoher Politik" und gesellschaftlichem Engagement in den deutsch-französischen Beziehungen vgl. Lily Gardner-Feldman: The principle and practice of 'reconciliation' in German foreign policy: relations with France, Israel, Poland and the Czech Republic, in: International Affairs 1999, 75:2, 333-356.
Lucie Filipová: Erfüllte Hoffnung. Städtepartnerschaften als Instrument der deutsch-französischen Aussöhnung, 1950-2000 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Bd. 237), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 409 S., ISBN 978-3-525-10139-1, EUR 79,99
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