Mitte des 20. Jahrhunderts herrschte in Kolumbien ein Bürgerkrieg, der mit der schlichten Bezeichnung Violencia (Gewalt) in die Geschichte eingegangen ist und über den seither in Kolumbien eine so intensive Auseinandersetzung stattfindet, dass sich daraus ein eigenes Forschungsfeld (Violentología) mit den dazugehörigen Spezialistinnen und Spezialisten (Violentólogas/os) entwickelte.[1] In keiner Beschreibung des Bürgerkriegs, der über 200.000 Menschen insbesondere aus ländlichen Regionen das Leben kostete, fehlt der Hinweis auf das hohe Maß an Grausamkeit. Aus einem Konflikt um politischen Einfluss zwischen der Liberalen und Konservativen Partei, den beiden Traditionsparteien Kolumbiens, entwickelte sich die Violencia zu einem vielschichtigen Krieg mit zahlreichen bewaffneten Akteursgruppen: Konservative Milizen, Militär, Polizei, liberale Guerillas und kommunistische Widerstandsgruppen.
Lukas Rehm macht die Komplexität der regional sehr unterschiedlichen Allianzen und Machtverhältnisse in seiner Untersuchung der Violencia im Departamento Tolima deutlich, mit der er 2014 an der Universität Bielefeld promoviert wurde. Er wählt dabei einen ungewöhnlich langen Zeitraum - 1946 bis 1964 -, der von der gängigen Periodisierung abweicht: von den Unruhen nach der Ermordung des liberalen Politikers Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 bis zur 1958 erfolgten Regierungsübernahme des Frente Nacional, einer Koalitionsregierung der Liberalen und Konservativen Partei. Rehms Berücksichtigung der gewalttätigen Auseinandersetzungen seit den Präsidentschaftswahlen von 1946 und in den ersten Jahren des Frente Nacional zwischen 1958 und 1964 bricht mit den Annahmen eines plötzlichen Gewaltausbruchs einerseits und der landesweiten Rückkehr zu einem friedlichen Miteinander durch die Koalition andererseits.[2]
Die Provinz Tolima im Zentrum Kolumbiens war vor allem in der Spätphase der Violencia ein Hauptschauplatz der Gewalt und markiert als Geburtsort der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) den Übergang zu dem bis heute andauernden und in hiesigen Breitengraden sehr viel bekannteren Kampf zwischen revolutionären Gruppen und dem kolumbianischen Staat. Als verbindendes Element zwischen beiden Phasen der Gewalt arbeitet Rehm in seinem Ausblick überzeugend die "reduktive Definition des Politischen" (442) heraus und positioniert sich damit gegen die Diskontinuitätsthese, in der die Unterschiede zwischen dem Kampf um politische Teilhabe und dem Kampf gegen das System betont werden. Als politisch galt in beiden Konflikten nur das Agieren innerhalb der Traditionsparteien, die Kommunistische Partei und weitere Akteure wurden kriminalisiert.
Rehm geht in erster Linie der Frage nach, wie "Gewalt im Untersuchungszeitraum zu einer Handlungsressource wurde, auf die derart extensiv in den politischen Auseinandersetzungen zurückgegriffen wurde" (19). Als politisch begreift er im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen "Akteure, Diskurse und Themen", die "auf das Gemeinwesen Bezug nehmen" (27). Er setzt sich für die Beantwortung der Frage intensiv mit unterschiedlichen Schulen der Gewaltforschung auseinander und orientiert sich in seiner Analyse an Ansätzen, welche die Notwendigkeit betonen, zwischen Gewaltstrukturen und -taten zu unterscheiden. Zudem streicht er den performativen Charakter von Gewalt und ihre kommunikative Funktion heraus. So kann er Interpretationen der Violencia entkräften, die die grausamen Gewalthandlungen pathologisieren und der kolumbianischen Gesellschaft einen ahistorischen Hang zu Gewalt zuschreiben [3].
Rehm argumentiert im ersten Hauptteil der Arbeit, dass die Darstellung des politischen Gegners seitens der Führungsebene der Traditionsparteien zu einer "Dichotomisierung der sozialen Realität" führte, die "Gewalt zu einer Handlungsoption" (93) machte. Grundlage hierfür bildet eine umfangreiche diskursanalytische Auswertung von Zeitungsartikeln aus der Frühphase der Violencia. In Abgrenzung zur bisherigen Forschung setzt Rehm die antagonistische Wahrnehmung der jeweils anderen Partei nicht nur voraus, sondern analysiert die Argumentationsmuster en detail. So kann er die diskursive Verfestigung politischer Antipoden (die Konservative Partei stilisierte die Liberalen als kommunistisch, diese die Konservativen wiederum als faschistisch) ebenso herausarbeiten wie die beiderseitige Eigenwahrnehmung als Verteidiger des Abendlands, die jeweilige Stigmatisierung der Gegenseite als barbarisch unter Rückgriff auf evolutionistische Theorien sowie ihre Dämonisierung und Entmenschlichung durch biologistische Diskurse und Krankheitsmetaphern. Er konstatiert hierzu abschließend: "Gegen barbarische Horden und unzivilisierte Kriegsscharen war der Einsatz massiver Gewalt [...] leichter vorstellbar und damit auch leichter in die Tat umzusetzen." (183)
Den zweiten analytischen Hauptteil bildet die Untersuchung der Violencia in der Provinz Tolima, die Rehm - analog zu einer breiten Überblicksdarstellung der Violencia auf nationalstaatlicher Ebene - in fünf Phasen unterteilt und nach Akteursgruppen strukturiert. Detailreich werden in der Regionalstudie Parallelen, Differenzen und Verzahnungen zwischen der nationalen und regionalen Ebene aufgezeigt. Mit der Darstellung einzelner Gewaltakte, wie der Platzierung eines Wahlausweises auf einer zerschundenen Leiche zur Abschreckung der Wählerschaft oder der Verübung von Massakern zur Herstellung territorialer Kontrolle, stellt Rehm anschaulich heraus, wie Gewalt in Tolima als Kommunikationsmedium eingesetzt wurde. Dieser Teil der Arbeit beruht in erster Linie auf der Auswertung eines umfangreichen juristischen Quellenbestands aus lokalen Archiven, den Rehm erstmals bearbeitet hat. Der Entstehungskontext der Quellen und die Rolle der Justiz in der Violencia bleiben jedoch weitgehend offen. Zahlreiche Verweise auf transnationale Ebenen des Bürgerkriegs, beispielsweise Gerüchte um Verbindungen ins revolutionäre Kuba oder die Rolle der Korea-Veteranen im kolumbianischen Militär, deuten darauf hin, dass auch nach mehreren Jahrzehnten Violentología interessante Aspekte des Bürgerkriegs unerforscht sind.
In den Verknüpfungen zwischen den theoretischen Annahmen der interdisziplinären Gewaltforschung und den Einzeldarstellungen der Gewalthandlungen in Tolima sowie zwischen den nationalen Diskursen und deren Zirkulation auf regionaler Ebene liegen zwei Stärken der Studie. Weiterhin sind die differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Akteursgruppen, die die Komplexität der Violencia aufzeigt und eine beeindruckend umfangreiche Quellengrundlage hervorzuheben. Die Arbeit wird so zur unverzichtbaren Lektüre für Violentólogas/os aus allen Ländern und ist darüber hinaus für die historische Gewaltforschung insgesamt von großer Bedeutung.
Anmerkungen:
[1] Zwei Forschungsüberblicke zur Violencia, die die Literatur bis in die 1990er Jahre erfassen, finden sich in: Gonzalo Sánchez / Ricardo Peñaranda (Hgg.): Pasado y presente de la violencia en Colombia, Bogotá 2007.
[2] Zum Wert von Regionalstudien der Violencia, die die Komplexität des Konflikts aufzeigen und mit standardisierten Interpretationen brechen vgl. auch Mary Roldán: Blood and Fire. La Violencia in Antioquia, Colombia, 1946-1953, Durham / London 2002.
[3] Vgl. zu dieser Zuschreibung und der Kritik daran auch Sven Schuster: Die Violencia in Kolumbien: Verbotene Erinnerung? Der Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1948-2008, Stuttgart 2009.
Lukas Rehm: Politische Gewalt in Kolumbien. Die Violencia in Tolima, 1946-1964 (= Historamericana; Bd. 32), Stuttgart: Verlag Hans-Dieter-Heinz. Akademischer Verlag 2014, 470 S., ISBN 978-3-88099-701-1, EUR 34,50
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