Der vorliegende Band ist Wohnräumen, Interieurs und deren Ausstattung aus der Zeit um 1800 gewidmet. Auf einen Workshop zum Thema Tapezierte Interieur-Anordnung zurückgehend, der im Mai 2012 an der Universität Bremen stattfand, versammelt das Buch Beiträge von Kunsthistorikern, Historikern, und Literaturwissenschaftlern. Die beiden Herausgeberinnen steuern einen grundlegenden, einleitenden Aufsatz bei. Ein kurzes Geleitwort von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz, Leiterinnen des Forschungsfeldes wohnen +/- ausstellen und des Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, welches in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen das Forschungsfeld betreibt, vervollständigt die Publikation.
Die neun Essays argumentieren, dass zeitgenössische Interieurs oftmals komplexen Ausstattungsprogrammen folgten, die sich nicht selten um panoramaartige Bildtapeten, dem eigentlichen Thema des Bandes, herum entfalten. Das Wort "Narrative" im Untertitel verweist allerdings auch darauf, dass es nicht nur um Tapeten geht, sondern auch darum, in welchem Kontext diese wie angegangen, interpretiert und erzählt werden.
Das Geleitwort benennt als Konzept der Herausgeberinnen, Tapeten kulturwissenschaftlich und repräsentationskritisch zu befragen, um so "die (inter-)disziplinären Fähigkeiten der Kunstwissenschaft in der Befragung von Bedeutungsproduktionen" zu aktivieren und "Anschlüsse an die Ikonologie, Semiologie, Rezeptionsästhetik und Geschlechterforschung oder postkoloniale Bezugnahmen" zu ermöglichen. Den Autorinnen des Geleitwortes zufolge beabsichtigen sowohl das Buch als auch das Forschungsfeld wohnen +/- ausstellen "die mehrheitlich objekt- und meisterorientierte deutschsprachige Wohnforschung in eine aus den Diskursen um Wohnen, Privatheit, Subjekt oder Geschlecht geleitete Forschung zu verwickeln." (10)
Ein Ziel ist also, über die historische Untersuchung von Bildtapeten andere Kunstgeschichten zu postulieren. Die meisten Buchbeiträge lösen diesen Anspruch nur recht zögernd ein, wodurch der Band allerdings viele lesbare und faszinierende, historisch angelegte Fallstudien gewinnt. Diese bieten - objektorientiert und oft auch an individuellen Meistern, wie Malern und Tapetenfabrikanten, und Auftraggebern interessiert - detaillierte Forschungsergebnisse zur Entstehung, Geschichte und Rezeption von einzelnen Bildtapeten und Interieurs.
Der einleitende Aufsatz der Herausgeberinnen, "Imaginationsräume des (bürgerlichen) Selbst", bietet unverzichtbaren Hintergrund zu dem Thema Bildtapeten, das eher einen kleinen Bereich im großen der Wohnforschung einnimmt. Die ersten Seiten sind jedoch der theoretischen Positionierung des Buches (und seiner Herausgeber?) gewidmet. In schneller Folge geht es um transdisziplinäre Ansätze, Raum und spatial turn, Geschlecht, Ethnizität, Nationen, post-colonial studies, europäische Dominanztheorien, material studies, Foucault und Bourdieu. Das erinnert sehr an den Habitus amerikanischer Doktoranden, ihre Dissertationen mit Theoriediskursen einzuleiten, die Titel wichtiger Bücher und Namen angesehener Denker wie Duftmarken zu verteilen, um damit deren und somit auch das eigene Terrain abzustecken. Nur meistens ist der Zusammenhang zu, beziehungsweise Erkenntnisgewinn für die nachfolgenden Ausführungen eher gering, so auch in diesem Fall.
Der historischen Entwicklung der gedruckten Bildtapete wenden sich die Autorinnen endlich zehn Seiten später zu. Zeitgleich mit dem Aufkommen des Bürgertums hielt die Bildtapete Einzug in einige bürgerliche Wohnzimmer. Die Autorinnen verorten das Phänomen im Zusammenhang mit zeitgenössischen Medien, wachsendem Wissen um fremde Völker und Orte, neuen Naturerfahrungen, Umbrüchen von Familien- und Sozialstrukturen, Veränderungen im Verständnis von Wohnen, Haus und 'zu Hause', sowie im Spannungsfeld zwischen Privat- und öffentlicher Sphäre.
Die nachfolgenden Aufsätze sind in drei Kategorien eingeteilt. In der ersten, "Subjektformierungen im Wohnraum um 1800", zeichnet sich vor allem der Beitrag von Tobias Pfeifer-Helke aus. Der Autor bespricht den Briefwechsel zwischen Albertine von Grün und dem Literaten Johann Heinrich Merck, der sich unter anderem um die Einrichtung des Zimmers von von Grün drehte. Pfeifer-Helke weist nach, dass obwohl von einem zeitgenössischen, literarischen Werk initiiert, von Grün subjektive Befindlichkeiten in die Dekoration ihres Zimmers wie auch in seiner brieflichen Beschreibung einbringt.
Die Sektion "Ferne Welten an der Wand" versammelt Beiträge, die detailliert den Geschichten dreier Bildtapeten nachgehen. Astrid Arnold beschäftigt sich mit einer Panoramatapete, die "edle Wilde" im pazifischen Ozean im Nachgang zu Kapitän James Cooks Forschungsreisen darstellte. Friederike Wappenschmidt untersucht die Rezeption originaler chinesischer Bildtapeten in Europa, und Betje Black Klier stellt die Bonapartist-Utopia-Bildtapete vor, die heute in Alabama aufbewahrt wird, und unter anderem zwei kurzlebige französische Exilkommunen im Niemandsland zwischen Texas und Mexiko porträtiert.
Diese drei Texte sowie der von Angela Borchert zu "Arabeskgrotesken 'Zimmerverzierungen' in der Raumästhetik des Interieurs um 1800" im dritten Teil ("Dekor- und Objektgeschichten des Wohnens") beschäftigen sich am deutlichsten mit Bildtapeten und belegen, dass gerade die Konzentration auf Einzelobjekte die übergeordneten Themen des Buches am klarsten aufgreifen und mit neuen Einsichten bereichern kann. Arnold ist zum Beispiel die einzige Autorin, die die Frage stellt (und auch beantwortet), in genau welchen bürgerlichen Häusern Bildtapeten aufgehängt wurden (123), anstelle anzunehmen, dass diese hauptsächlich eine bürgerliche Innendekoration seien - selbst wenn das Anschauungsmaterial, das andere Beiträge analysieren, oft adligen Wohnräumen entstammt. Arnold fragt weiter, in welchen Zimmern Bildtapeten zu sehen waren (123). Die Frage ist wichtig, da es auch in Privatwohnungen quasi-öffentliche Räume wie zum Beispiel den Salon gab, eine Differenzierung zwischen privat und öffentlich, die die Einleitung zum Beispiel nicht unternimmt.
Die Einbettung zum Beispiel der Alabama Bildtapete in die globalen Zusammenhänge zwischen napoleonischem und nach-napoleonischem Frankreich, Mexiko, den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Spanischen Empire wird viel greifbarer in der historischen Rekonstruktion, die die Autorin Black Klier anbietet, als in jeder theoretischen Reflektion.
Von dem Widerspruch zwischen den offensichtlichen theoretischen Ansprüchen der Herausgeber und den objektorientierten Schwerpunkten der meisten Autoren abgesehen, bietet der Band eine beispielhafte Darstellung der Entwicklung, Geschichte, und Rezeption von Bildtapeten um 1800. Insgesamt geben die Einzelbeiträge eine gute Einführung in das Thema und viele seiner Facetten. Die Ausführungen der Herausgeberinnen schlagen mögliche theorie-orientierte Richtungen der Bildtapetenforschungen vor, doch den meisten Aufsätzen dieses Bandes folgend besteht dafür eher wenig Bedarf.
Katharina Eck / Astrid Silvia Schönhagen (Hgg.): Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800 (= wohnen +/- ausstellen; Bd. 2), Bielefeld: transcript 2014, 250 S., 40 Abb., ISBN 978-3-8376-2418-2, EUR 29,99
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