Im Kern stellten sich Anfang der 1950er Jahre dieselben sicherheitspolitischen Fragen bezüglich der Finalität der europäischen Integration wie heute: Wie weit waren die Einzelstaaten bereit, bei der Vergemeinschaftung in diesem zentralen Bestand ihrer nationalen Souveränität - der Sicherheitspolitik - zu gehen? Studien zur deutsch-französischen Annäherung, zur Frühphase der europäischen Integration und zum Komplex der Wiederbewaffnung und der EVG füllen ganze Bibliotheken. Dagegen ist das Feld des Rüstungswesens vor diesem Hintergrund in der Forschung bisher kaum bearbeitet worden - ein Desiderat, dessen sich die vorliegende Dissertation annimmt.
Florian Seiller beleuchtet die weitgehend unbeachtet gebliebene Tatsache, dass die Bundesrepublik, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten bereits Anfang der 1950er Jahre im Rahmen der EVG den Aufbau eines gemeinsamen Rüstungs- und Beschaffungswesens planten. Untersuchungsgegenstand seiner Monographie sind insbesondere die Ziele und Interessen sowie die Konzepte und Ideen, die von den beteiligten Akteuren eingebracht und vertreten wurden. Er analysiert die Positionen der verschiedenen Regierungen, Militärs, Rüstungsfachleuten, nationalen Verhandlungsdelegationen und Wirtschaftsverbänden zwischen dem Beginn des EVG-Projekts 1950 und dessen endgültigem Scheitern 1954. Gestützt ist die Arbeit auf umfangreiches Archivmaterial, in erster Linie behördliche Akten aus der Bundesrepublik und Frankreich sowie ausgewählte Nachlässe von Beteiligten.
Der Autor beginnt seine Untersuchung mit drei einleitenden Kapiteln, die den Bogen von den EVG-Verhandlungen hin zu den rüstungswirtschaftlichen Fragen und der Rolle, die der Bundesrepublik in den französischen Verteidigungsplanungen zugedacht war, spannen. Der Autor zeigt, dass Frankreich während der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg den rüstungstechnologischen Anschluss verloren hatte, sich in diesem Bereich "1944/45 praktisch am Nullpunkt" (99) befand und daher von den USA abhängig war, die im Zuge des Koreakriegs auf eigene Rüstungsanstrengungen drängten. Daraus resultierte die Einschätzung, dass ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag - als Barriere gegen den kommunistischen Ostblock - unvermeidbar sei, wenngleich man glaubte, sich gegen ein Wiedererstarken der Deutschen absichern zu müssen.
Der Hauptteil der Arbeit folgt in den Kapiteln IV bis IX. Der Autor zeichnet die Verhandlungen über die Rüstungsklauseln zum EVG-Vertrag detailliert nach und hebt dabei den Kompromisscharakter des Ergebnisses hervor. So wurde die Bundesrepublik einerseits formal gleichgestellt, andererseits aber wurden ihr einschneidende Beschränkungen auferlegt. Der Rüstungssektor Westdeutschlands sollte - im Gegensatz zu allen anderen - von Anfang an europäisch sein. Die französische Regierung versuchte so, die bundesdeutschen Verteidigungskapazitäten für sich zu nutzen. Gleichzeitig ordnet Seiller die Verhandlungen auf dem Gebiet der Rüstungskooperation in den größeren wirtschaftlichen und politischen Zusammenhang ein. Frankreich bemühte sich um Standardisierung, den Zugang zu modernen Waffentechnologien und die Schaffung kontinentaleuropäischer Organisationen - unter Ausschluss Großbritanniens -, konnte sich damit aber nicht bei den europäischen Partnern durchsetzen. Dass die französischen Militärs unbedingt die Bundesrepublik in die Rüstungsorganisationen einbinden wollten, um das westdeutsche Verteidigungspotenzial nutzen zu können, und damit viel weiter gewesen seien als die Politik, die zu diesem Zeitpunkt große Bedenken gegen eine westdeutsche Wiederbewaffnung hegte, gehört dabei zu den besonders erhellenden Erkenntnissen.
Seiller gelingt es, die unterschiedlichen Interessen und Ziele der einzelnen Akteure, die Dilemmata und Ambivalenzen der französischen Politik überzeugend herauszuarbeiten. Einerseits plädierten die Militärs nachdrücklich für eine Integration Bonns in gemeinsame Rüstungsorganisationen und entwickelten sich früh zu Fürsprechern der westdeutschen Wiederbewaffnung (275). Damit waren sie den politischen Bedenkenträgern ein gutes Stück voraus. Andererseits spielten auch rein ökonomische Interessen eine entscheidende Rolle: "Der Annäherungsprozess zwischen Deutschen und Franzosen auf rüstungswirtschaftlichem Gebiet wurde weniger vom Europa- und Versöhnungsgedanken der Nachkriegszeit bestimmt, wie er immer wieder vonseiten der Politik öffentlich beschworen wurde, sondern maßgeblich von ökonomischen Interessen, vom Gewinnstreben von Unternehmen und Verbänden" (303).
Beide - sowohl die Militärs als auch die französische Wirtschaft - sprachen sich daher gegen die Schaffung einer Europaarmee aus. Erstere sahen in einer supranational konzipierten EVG einen unannehmbaren Widerspruch zum Selbstverständnis Frankreichs als unabhängige Großmacht neben den USA und Großbritannien und plädierten deshalb für intergouvernementale Rüstungskooperation; letztere konnte aus Sorge um die heimische Industrie kein supranationales Beschaffungssystem akzeptieren.
Der Autor zeigt, dass die rüstungs- und wirtschaftspolitische Einbindung Westdeutschlands letztlich entscheidender war als der eigentliche Aufbau einer effektiven Sicherheitsarchitektur - weshalb auch die sowjetische Bedrohung bei den Planungen bemerkenswerterweise keine Rolle spielte (444). Als ab 1953 der Widerstand gegen die EVG im französischen Parlament wuchs, wandte man sich in Paris alternativen Planungen zu, die ein an die NATO angelehntes europäisches, intergouvernementales Verteidigungssystem mit bestimmten Schutzmechanismen zur Eindämmung der Bundesrepublik vorsahen. Als sich schließlich abzeichnete, dass eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands nicht mehr aufzuhalten war, versuchte Paris wenigstens eine Form der Kooperation zu finden, mit der sich das westdeutsche Potenzial technologisch und wirtschaftlich für Frankreich nutzen ließ. Das Credo lautete deshalb, wie Seiller pointiert formuliert: "Profit und Sicherheit durch Kooperation" (469).
Der Autor schließt mit einem lesenswerten Ausblick auf die Gegenwart und zieht Parallelen zur gegenwärtigen Rüstungskooperation der EU-Staaten und der Finalität der Union. Es gelingt ihm zum Abschluss seiner detailreichen Studie darzulegen, dass Frankreichs supranationale Rüstungskooperationsansätze vor allem die Eindämmung Westdeutschlands zum Ziel hatten. Er sieht dies u.a. in einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber der erfolgreichen bundesdeutschen Industrie begründet, weshalb die Furcht vor einem gemeinsamen Markt wesentlich zum Scheitern der EVG beigetragen habe, während sich die Bundesrepublik bekanntermaßen durch einen Wehrbeitrag und die Mitarbeit in supranationalen Organisationen einen Souveränitätsgewinn erhoffte.
Zusammenfassend kommt Florian Seiller zu dem Schluss, dass der Rüstungssektor bereits kurz nach Ende des Weltkrieges eine wichtige und bislang unterschätzte Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen spielte. Zudem zeigt er, dass Frankreichs Forderung nach einer supranationalen Einbettung der Rüstungskapazitäten für Paris selbst zum Problem wurde, da dies nicht zum eigenen Weltmachtanspruch der Grande Nation passte. Daher sei die Idee einer Europaarmee und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Anfang der 1950er Jahre verfrüht gewesen. Insgesamt gelingt es Seiller, in seiner akribischen - was die Nachzeichnung einzelner Verhandlungen betrifft fast schon zu detailreichen - Untersuchung, die vielschichtigen Verknüpfungen von Sicherheit, Wirtschaft und Politik auf dem Feld der beginnenden europäischen Integration fundiert herauszuarbeiten.
Florian Seiller: Rüstungsintegration. Frankreich, die Bundesrepublik und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1950-1954 (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses; Bd. 9), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, XIV + 585 S., 29 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-486-76430-7, EUR 79,95
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