Eine fünfhundertseitige Monografie über ein mittelalterliches Fußbodenmosaik zu schreiben, ist im digitalen Zeitalter, in dem Wissen zwar schnell, aber meist an der neuronalen Oberfläche gespeichert wird, ein gewagtes Unterfangen. Gerade dieses Wagnis weckt jedoch die wissenschaftliche Neugier nicht nur des Mediävisten, die - das kann vorab schon verraten werden - nicht enttäuscht wird. Der Untertitel "Normannische Herrscherideologie als Endzeitvision" impliziert ebenso eine politische wie eine theologische Aussage und verspricht damit einen interdisziplinären Ansatz, ein Versprechen, das - auch das darf vorab verraten werden - nicht eingehalten wird. Das Inhaltsverzeichnis stellt klar, dass es sich vorwiegend um eine "ikonographisch-ikonologische Studie des Mosaikprogramms" handelt. So jedenfalls ist das vierte Kapitel übertitelt, das mehr als ein Dreiviertel der theoretischen Untersuchung einnimmt. Daran schließt ein kurzes dreisprachiges Resümee an (Kap. 5). Die folgenden 180 Seiten (Kap. 6 und 7) bestehen aus einem Katalog von 60 ikonografischen Motiven und Themen, die auf dem Otrantiner Bodenmosaik dargestellt sind, und aus einem "Katalog der mittelalterlichen figürlichen Bodenmosaiken in Unteritalien". Sehr verdienstvoll sind die vier Quellenauszüge (Kap. 8) und nach den Verzeichnissen und der Literatur ein abschließendes Register (Kap. 11), das nicht nur die behandelten Personen, Orte und ikonografischen Motive erfasst, sondern auch die zitierten biblischen und außerkanonischen Schriften aufführt. Im Tafelteil mit zum Teil kleinformatigen, aber farbigen Abbildungen sind die Gesamtansichten aus der Vogelperspektive von größtem Nutzen.
Die eigenwillige Einteilung und konsequente Dezimalbezifferung der Kapitel lassen erkennen, dass es sich bei der Monografie Christine Ungruhs um eine Dissertation handelt. Die Schrift wurde 2009 an der Philosophischen Fakultät in Göttingen eingereicht. Die anregenden, höchst informativen und akribisch recherchierten Ausführungen zum historischen Hintergrund des normannischen Apulien und der Stadt Otranto, mit denen die Arbeit beginnen, erhalten aber gerade durch den hohen wissenschaftlichen Anspruch ihre Spannung und ihren über historische Gemeinplätze weit hinausgehenden Impuls.
So ist es für die frühnormannische Landnahme durchaus von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass im 11. Jahrhundert außer dem "Hauteville-Clan" auch andere Adelige aus der Normandie nach Unteritalien drängten, deren Rivalität zunächst "die Bildung eines geeinten Normannenreichs behindert" (16). Von ganz besonderer Relevanz für die Bemühungen einer Herrschaftssicherung der siculo-normannischen Monarchie zur Zeit Wilhelms I. (1154-1166) ist Ungruhs Erwähnung des Sohns Wilhelms I., Roger, der 1156 - auf dem Höhepunkt der normannischen Macht - vierjährig mit dem Herzogtum Apulien belehnt wird und Kronprätendent war. Die Autorin erwähnt auch den frühen Tod Rogers während der Aufstände und Pogrome 1161 in Palermo, ohne jedoch die Dimension dieses Ereignisses für die Entstehung und Rezeption des Mosaikprogramms in der Kathedrale von Otranto zu erfassen. Gerade dieses Ereignis verbunden mit der Frage nach dem Auftraggeber und Adressaten des Bildprogramms hätte der Argumentation Ungruhs einen weiteren Lösungsansatz verliehen. Völlig richtig ist es, die in den Beischriften der Mosaike verwendeten Epitheta und Anrufungsformeln Wilhelms I. "als politisches Statement" zu werten, jedoch zu einseitig, "das anspruchsvolle, herrscherzentrierte Programm als Zeichen der bischöflichen Loyalität" (18) zu interpretieren. Als Adressat sollte nicht nur der 1163 gewählte Erzbischof von Otranto, Jonathas, gelten, sondern auch der junge, bereits 1161 verstorbene Kronprätendent Roger. In diesem Zusammenhang wäre auch die Einflussnahme der mächtigen Königsgattin Margarethe von Navarra zu nennen. Ungruh lässt hier die Möglichkeit ungenutzt, vor allem das von ihr pointierte Bildprogramm im südlichen Querhaus (116-132) auf implizierte Funktionsabläufe und Lesarten zu befragen, die auf ein konkretes historisches Ereignis wie zum Beispiel die Entgegennahme des Lehnseides der apulischen Barone durch den jungen Herzog Roger anspielen könnten.
Solche politischen Interpretationen greifen nur, wenn sie von den Quellen gestützt werden. Die Autorin legt mit Recht Wert darauf, den für das 12. Jahrhundert spärlich überlieferten Urkundenbefund in Otranto zu untersuchen. Darüber hinaus fallen bei genauer Anschauung des Mosaikfußbodens in der Kathedrale insgesamt fünf musivische Inschriften auf. Sie als Primärquellen zu bewerten und direkt auf die Entstehungsgeschichte des Fußbodens anzuwenden, wie es Ungruh tut, ist methodisch einwandfrei. Zwei der Inschriften nennen Indiktion und Jahreszahl. Die am östlichen Rand des Vierungsmosaiks inkrustierte (oder mosaizierte) lateinische Inschrift nennt namentlich König Wilhelm, den "demütigen Diener Christi, [Erzbischof] Jonathas" und die Jahreszahl 1163. Eine weitere Inschrift befindet sich im vierten Joch des Mittelschiffs. Sie ist als doppeltes Schriftband quer zum Verlauf des Schiffs verlegt und für den von Westen Eintretenden zu lesen. Während Sprache und Inhalt der ersten Inschrift gleichen, wird ein anderes Datum angegeben. Genannt werden König Wilhelm I. und der Kleriker Jonathas, der jetzt den Titel des Erzbischofs von Otranto explizit führt, und die Jahreszahl 1165. Die Autorin folgt - wie schon namhafte Gelehrte vor ihr - der Prämisse, dass die Verlegung des Fußbodens von Osten nach Westen erfolgte (29). Sollte der unmündige Herzog Roger der Adressat gewesen sein, was Unruh nicht erwägt, müsste das Bildprogramm - oder wesentliche Teile desselben - bereits 1161, also vor dem tragischen Tod des kleinen Roger, konzipiert gewesen sein. Jedoch ist dies ungewiss, und auch die sonst so verlässlichen Chronisten Romoald von Salerno und Hugo Falcandus schweigen sich über die zukünftigen Aufgaben Rogers als Mitregenten seines Vaters aus. Ungruh schließt die Möglichkeit eines bereits existierenden Bildprogramms, auf das sich der neu geplante Mosaikboden in der Kathedrale von Otranto bezogen haben könnte, aus. Tatsächlich ist einer solchen Annahme ohne weitere Quellenbefunde vorsichtig zu begegnen. Dennoch wäre es notwendig gewesen, auf ein eminent wichtiges und früheres Bildprogramm in der Kathedrale von Otranto hinzuweisen: die figürlichen Skulpturen an den Kapitellen der Unterkirche. Der terminus ante quem für die Ausstattung der Unterkirche der Kathedrale könnte das überlieferte, allerdings in der Forschung nicht unangefochtene Weihedatum 1088 sein (22-23). Stilistisch weisen einige Kapitelle auf das frühe 12. Jahrhundert. Entscheidend ist, dass es frappierende Ähnlichkeiten und sogar Übereinstimmungen in der Programmatik und Ikonografie der gemeißelten Bilder gegenüber den musivischen Bildern in der Oberkirche gibt. Willemsen hatte das schon 1980 in seiner Monografie über das Otrantiner Fußbodenmosaik erkannt und deshalb den einführenden Teil seiner Untersuchung der Unterkirche gewidmet. [1]
Die Monografie Ungruhs zeichnet sich gegenüber Studien anderer Autoren dadurch aus, dass sie die Analyse nicht nur auf das Mittelschiff fokussiert, sondern alle Teile des ursprünglich 740 Quadratmeter umfassenden Fußbodenmosaiks in den Blick nimmt und die Frage nach einem Gesamtprogramm stellt. Doch bleibt Ungruhs Blick - so verdienstvoll er auch für die Grundlagenforschung ist - wie gesagt auf eine ikonografisch-ikonologische Fragestellung beschränkt. Es ist schade, dass diese Methode so ausschließlich angewendet wird und Bedingung dafür ist, dass in ihrer Untersuchung "Fragen nach der Baugeschichte der Kathedrale, nach Werkstatt des Mosaiks oder technische Aspekte nur am Rande behandelt werden" (40). Die Autorin macht hierfür die karge Quellenlage verantwortlich. Für die Beantwortung der Frage nach den möglichen Funktionen eines Fußbodens und seiner Bilder ist aber nicht nur eine gute Quellenlage verantwortlich, sondern auch die Bereitschaft des Interpreten, die narrativen Kontinuitäten und Diskontinuitäten der dargestellten Figuren und Ornamente zu erkennen. Es sollte Aufgabe auch des gelehrten Interpreten sein, sich dem Rhythmus der Bilder zu stellen, den der Gläubige im 12. Jahrhundert leiblich zu erfahren hatte. Fußbodeninkrustationen wie in Otranto fordern ja gerade dazu auf, eine "Strategie der Bilder" zu entdecken, die erst in der Bewegung des Betrachters, also im rhythmischen Wechsel von Gehen und Stehen erfahrbar wird. Nicht zuletzt sind es die monumentalen Inschriften, die nur in einem Bewegungsablauf von links nach rechts oder im Umkreisen eines Medaillons zu lesen sind. Dabei sollte danach gefragt werden, wer dafür die Anweisungen gab. Gab es einen Ordo oder einen liturgischen Leitfaden, der den Bewegungsablauf der anwesenden Kleriker und Gläubigen vorschrieb? Waren es nur liturgische Vorgaben oder auch die Bilder selbst, die dem Betrachter seinen jeweiligen Standort zuwiesen?
Ungruhs Buch regt - trotz oder gerade wegen der Fokussierung auf die Ikonografie - zu innovativen Fragestellungen an und wird als Grundlage für weitere Forschungen zur normannischen Herrscherikonologie in Italien dienen.
Anmerkung:
[1] Carl Arnold Willemsen: L'enigma di Otranto. Il mosaico pavimentale del presbitero Pantaleone nella Cattedrale, Galatina 1980; übers. Das Rätsel von Otranto. Das Fußbodenmosaik in der Kathedrale. Eine Bestandsaufnahme, Sigmaringen 1992.
Christine Ungruh: Das Bodenmosaik der Kathedrale von Otranto (1163-1165). Normannische Herrscherideologie als Endzeitvision (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 9), Affalterbach: Didymos-Verlag 2013, 486 S., 123 Farb-, 195 s/w-Abb., ISBN 978-3-939020-09-7, EUR 74,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.