In der 2015 erschienenen Monographie von Claudius Sieber-Lehmann verbinden sich die beiden Genres Essay und historische Studie im besten Sinne, bietet sie doch einen gleichermaßen straffen wie gedankenvollen Überblick über das Verhältnis von Kaiser und Papst im Hochmittelalter, ohne dabei auf einen ausführlichen Anmerkungsapparat zu verzichten. Diesem liegt ein vielschichtiges Literaturverzeichnis zugrunde, wenngleich die eine oder andere Abhandlung sicherlich mit Gewinn zu berücksichtigen gewesen wäre [1].
Im Kern geht es dem Autor dabei um eine gleichermaßen einfache wie wirkmächtige Frage: Wie wären die vielfältigen Veränderungen im 11. Jahrhundert, die in der Forschung mit verschiedenen Etiketten versehen wurden, verlaufen, wenn das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser nicht als Dualismus gedacht, sondern beide Gewalten nebeneinander - als Zwillinge - akzeptiert worden wären? Von diesem neuartigen Ansatz ausgehend, versucht sich Sieber-Lehmann an einem 'anderen Blick' auf die 'Universalgewalten im Investiturstreit', der in sechs unterschiedlich lange Kapitel gegliedert ist. Ein eingeschobener Abschnitt mit qualitativ hochwertigen Abbildungen (wobei nicht bei jedem Bild eine weiterführende Erkenntnis zu entdecken ist, so dass diese teilweise über eine illustrative Funktion nicht hinausgehen) bildet nach gut zwei Dritteln der Lektüre eine optische Zäsur. Das schon angesprochene Literaturverzeichnis beschließt gemeinsam mit seinem Quellenpendant und einem Personen- und Ortsregister den kurzen Band (166 Textseiten).
Der Aufbau ist stringent und scheint nach Ausweis des Vorwortes seine eigene Geschichte zu haben. Nach einer lediglich zweiseitigen Einleitung, die in ganz groben Zügen den Rahmen des Folgenden absteckt, beginnt Sieber-Lehmann seine Ausführungen mit einem konzisen Überblick über den Forschungsstand zu den von ihm im Titel mit "Investiturstreit" bezeichneten Phänomenen, wobei er unter dem Rubrum "Revolutionen?" (16) deutsche, französische und angelsächsische Forschungsperspektiven skizziert, die den 'revolutionären' Charakter der Ereignisse betonen. Dass einem derartig konzipierten Überblick eine gewisse Einseitigkeit innewohnt, ist zwangsläufig, doch soll dies keineswegs als Kritik verstanden werden, da es mittlerweile wohl nicht mehr zu leisten ist, die ausufernde Literatur in einem Forschungsüberblick auf wenigen Seiten vollständig zusammenzufassen. Vielmehr geht es Sieber-Lehmann darum, "nationale Traditionen" (29) sichtbar zu machen. Abgeschlossen wird dieser erste Teil von einem ebenfalls dicht gestalteten Überblick über die für den Autor maßgeblichen Entwicklungen im 11. Jahrhundert.
Hierauf folgt bereits das zentrale Kapitel des Buches ("3. Scheiternde Lösungsversuche und Verzweiflung" [47-91]), in dem anhand ausführlicher Quellenzitate, die teilweise erstmals in einer deutschen Übersetzung geboten werden, nachvollzogen wird, warum die "Denkfigur" "Papst und Kaiser als Zwillinge" (59) scheiterte beziehungsweise sich nicht durchsetzen konnte, obschon sich in einigen Texten derartige Ansätze ausmachen lassen. Die Gründe sucht Sieber-Lehmann dabei in dem Fehlen einer christlichen Tradition positiv besetzter Zwillinge, was er mit dem Umstand begründet, dass es in der Bibel keine derartigen Vorbilder gegeben habe, sondern, im Gegenteil, diese mit Jakob und Esau oder Perez und Serach eine eindeutig negativ konnotierte Aussage über Zwillinge beinhalte. Aus diesem Grund hätten sich die durchaus zu findenden Gedankenspiele einer "Zwillingskonzeption" nicht durchsetzen können und seien vielmehr ihrerseits oftmals von einer "horizontalen Doppelung wieder in ein vertikales Herrschaftsverhältnis" umgeschlagen (75).
Mit diesem Befund verlässt die Studie ihren engeren mediävistischen Gegenstand und erweitert sich zu einem explizit so zu verstehenden Beitrag zur historischen Anthropologie, indem Sieber-Lehmann das Phänomen des Zwillings, ausgehend von der lateinischen Antike und dem europäischen Mittelalter, in einer weitgespannten Perspektive beleuchtet und Ergebnisse der ethnologischen Forschung zu Afrika und Amerika (Asien oder Ozeanien bleiben ausgeklammert) berücksichtigt (92-127). Dabei kann er zeigen, dass der biblisch geprägten christlichen Sichtweise eine Reihe alternativer Denkmodelle aus anderen Zeiten und Räumen gegenübersteht. Anschließend spannt er den Bogen wieder zurück und skizziert in groben Strichen die Entwicklung seit dem Wormser Konkordat (137-162), worauf ein vierseitiges Resümee folgt, in dem er den Anschluss seiner Ergebnisse an moderne Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Veränderungen versucht und eine die Nützlichkeit einer Zwillinge berücksichtigenden Denkweise postuliert: "Letztlich zeigen uns Zwillinge, dass es nicht bloß das Eigene und Fremde gibt, sondern eben auch das Eigene zusammen mit dem näherliegenden, vertrauteren Anderen" (166).
Wie auch der Forschungsüberblick im Werk selber zeigt, leidet die Forschung zur päpstlich-kaiserlichen Auseinandersetzung im Hochmittelalter keineswegs an einem zu geringen Interesse der Forschung. Tatsächlich dürfte auch der Experte keineswegs alle bisher geleistete Arbeit überblicken können. Doch die hier zu besprechende, vergleichsweise schnell zu lesende Monographie ragt aus einer Vielzahl konventioneller Arbeiten aufgrund ihres innovativen Ansatzes heraus und regt zum Nachdenken an, ohne eine neue Geschichte der Kontroverse schreiben zu wollen, wie dies etwa Johannes Fried mit seinen Canossa-Studien anstrebte [2]. Vielmehr macht Sieber-Lehmann eindrücklich darauf aufmerksam, dass der sogenannte Investiturstreit keineswegs zwangsläufig in einer Gegensätzlichkeit von Papst und Kaiser hätte enden müssen, sondern (theoretisch) auch einer anderen Lösung hätte zugeführt werden können, hätten die zeitgenössischen Denker weniger auf der Grundlage einer biblisch geprägten 'geistigen Werkzeugkiste' (52, nach Lucien Febvre) agiert, sondern über ein (sich etwa aus antiken Traditionen speisendes) positives Bild von Zwillingen verfügt. Auch wenn die Ergebnisse von Sieber-Lehmann nichts an dem Handbuchwissen über den sogenannten Investiturstreit ändern (und es fraglich bleibt, ob sich eine derartige Konzeption wirklich hätte durchsetzen können), ist es überaus lohnend, über mögliche andere Wege zu spekulieren.
Anmerkungen:
[1] Hierbei wäre etwa an die Arbeiten von Sita Steckel über das Verhältnis von Religion und Politik, oder an die Dissertation von Matthias Schrör zu denken, in der dieser in einem weitgespannten Überblick die Abwertung des Amtes des Metropoliten durch eine genuin päpstliche Rechtssphäre (als neuartige Exklusivverbindung bestimmter kirchlicher Angelegenheiten mit dem Apostolischen Stuhl) nachzeichnet. Gleiches gilt für die Reflexion maßgeblicher Aspekte der sogenannten 'papstgeschichtlichen Wende' durch Johannes Laudage; vgl.: Sita Steckel: Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Transformationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzierung von Religion und Politik, in: Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, hgg. von Karl Gabriel u. a. Berlin 2012, 134-175; Matthias Schrör: Metropolitangewalt und papstgeschichtliche Wende (Historische Studien 494) Husum 2009; Johannes Laudage: Die papstgeschichtliche Wende, in: Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen - Strategien - Darstellungsformen, hg. von Stefan Weinfurter (Mittelalter-Forschungen; 38) Ostfildern 2012, 51-68.
[2] Vgl. dazu http://www.sehepunkte.de/2013/01/forum/canossa-keine-wende-brmehrfachbesprechung-von-johannes-fried-canossa-entlarvung-einer-legende-eine-streitschrift-berlin-2012-163/
Claudius Sieber-Lehmann: Papst und Kaiser als Zwillinge? Ein anderer Blick auf die Universalgewalten im Investiturstreit (= Papsttum im mittelalterlichen Europa; Bd. 4), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 203 S., ISBN 978-3-412-22450-9, EUR 35,00
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