Als 1986 eine neue Unterabteilung des RTA-Editionsprojekts gegründet wurde, avisierte man schon im Namen ("Reichsversammlungen"), dass man nicht vorhabe, ausschließlich Reichstage, also Vollversammlungen aller Reichsstände, zu dokumentieren. Kann der jetzt vorgelegte Band zum wählenden Kurfürstentag von 1575 erhärten, dass die damalige Entscheidung richtig gewesen ist?
Der Wahltag von 1575 gehört (mit rund drei Wochen) zu den kürzesten und den ganz undramatischen. Schon vor der Eröffnung des Konvents stand fest, dass Rudolf der einzige Kandidat war, 'Wahlkampf' hat es keinen gegeben. Es wäre dennoch instruktiv gewesen, einmal einige der (einer breiteren Öffentlichkeit unbekannten, da nicht edierten) internen Gutachten abzudrucken, in denen vor jedem wählenden Kurfürstentag Europas Herrscher von den kurfürstlichen Räten auf ihre Wahltauglichkeit hin gemustert zu werden pflegten. Und nur wenige Tage nach dem Ende des hier dokumentierten Konvents legte August von Sachsen seinen Räten die Frage vor, ob denn die Habsburger "darmitt wolgetan, das sye so lange Jahr nach der keyserlichen Wyrden gethrachtett?" Die uneingeschränkt bejahende (meines Wissens nie edierte) Antwort ist sehr lesenswert, beispielsweise, so Augusts Mitarbeiter, wäre Österreich andernfalls längst vom Türken "gefressen". Hier hat die Konzentration auf den Verhandlungsverlauf in Regensburg vielleicht interessante Seitenblicke verstellt. Es kann kein Vorwurf an die Bearbeiterin sein, jede Reihe hat eben ihre Richtlinien. An einer anderen Stelle wich Neerfeld zu Recht vom bei Reichstagen Üblichen (also der strikten Fokussierung des Beratungsgeschehens) ab, sie bietet eine ausführliche zeitgenössische Beschreibung der Krönungsfeierlichkeiten.
Auf den zweiten Blick war die Vorgeschichte des so undramatischen Kurfürstentags doch nicht ohne Brisanz, weil die wahlwilligen Kollegen den Heidelberger Kurfürsten so lang wie möglich über den Hauptzweck der Versammlung im Unklaren lassen wollten. Mit den pathetischen Solidaritätspostulaten des Kurvereins hatte diese unsolidarische Haltung nichts gemein. Wenn die Bearbeiterin einleitend vermerkt, dass der Heidelberger "als Reichsvikar Interesse an einem Interregnum hatte" (54), ist das nicht falsch, aber die pfälzische Haltung steht in einem weiteren Kontext. Alle Kurhöfe pflegten die ganze Neuzeit hindurch das Interregnum als potentielle Reichskrise einzustufen, und doch waren die Pfälzer im Konfessionellen Zeitalter gegen Königswahlen. Das illustriert die Unzufriedenheit mit dem Status quo, die potentielle Krise wurde so zur vermeintlichen Chance, die tendenziell prokatholischen Reichsstrukturen 'irgendwie' aufzubrechen. Zu Recht wurde die lesenswerte Instruktion für die Heidelberger Emissäre in Regensburg abgedruckt. Sie präsentiert sich als Kontrafaktur zu den im letzten Abschnitt erwähnten üblichen internen Wahlgutachten, in denen stets die Nachbarschaft Habsburgs zum "Türken" am meisten für diese Dynastie spricht. Anders nun die Pfälzer: war die Türkengefahr dem Reich nicht nur Habsburgs wegen "auf den halß gewachssen" (241)? Die anderen Nachbarn lebten doch auch im Frieden mit den Osmanen...
Auch für die neue Wahlkapitulation hatten die Pfälzer einige innovative Ideen, längere Debatten rankten sich lediglich um eine von ihnen: die Forderung, die Declaratio Ferdinandea in der Kapitulation zu bekräftigen. Fadenscheinig hielten die geistlichen Kurfürsten dagegen: Es handle sich um "ein gemein werck", dürfe nicht "den andern geistlichen hiedurch praejudiciret werden" (139). Die anderen Reichsstände könnten es "dahin verstehen, dz die churfursten sich alleine understehen wolten, newe geseze zu machen" (152). Die geistlichen Kurfürsten sprachen sich hier, rund sechzig Jahre, ehe sich eine kurfürstenkritische Fürstenpartei formieren wird, selbst das Ius adcapitulandi ab! Sie konnten, wie bei Konflikten mit den calvinistischen Pfälzern durchgehend in diesen Jahrzehnten, am Ende den konfliktscheuen Dresdner auf ihre Seite bekommen. "Die Abwehr möglicher Gefahren für die innere und äußere Stabilität im Reich erschien wichtiger als konfessionelle Erwägungen" (48), kommentiert die Bearbeiterin. Dem Rezensenten stach etwas anderes in die Augen: Die geistlichen Kurfürsten agierten schon 1575 als Kleriker, der konfessionelle Schulterschluss wog schwerer als kurfürstliche Standessolidarität, schwerer als die Loyalität der Vereinsbrüder. Das wird acht Jahre später im Kölner Krieg ganz evident werden, zeichnete sich aber eben doch schon in Regensburg ab. Die Solidaritäten im Reich begannen sich, der in singulärer Weise "politice Bäpstischen" Dresdner unerachtet, wieder an der konfessionellen Trennlinie auszurichten.
Dass man in Regensburg über die Rechtskraft der Declaratio Ferdinandea stritt, verbindet den wählenden Kurfürstentag mit dem Reichstag davor, dem danach. Auch sonst wurde 1575 über die großen Themen der Zeit gesprochen: über etwaige Gesandtschaften an den Großfürsten von Moskau (der Nöte Livlands und auch Lübecks wegen) sowie nach Warschau (weil Habsburg auf die polnische Königskrone hoffte); über den Großherzogstitel für Cosimo von Medici, interne Streitigkeiten in Genua, den Stand an der Türkenfront sowie Folgelasten der Grumbach-Fehde. Unter den zahlreichen Supplikanten war der Prinz von Condé. Wählende Kurfürstentage haben eben nicht 'nur' gewählt!
Haben die Kurfürsten denn Umfang und Grenzen ihrer Kompetenzen thematisiert? Im ganzen 16. Jahrhundert kaum je, und kaum je 1575. Den Fehler, eine Reichssteuer zu "bewilligen", werden sie nur 1636 begehen, deshalb war nun, in Regensburg, auch das Problem, wie denn die Kosten für die Gesandtschaft nach Moskau aufzubringen seien, nicht kurzfristig lösbar. Eine Begnadigung des im Zuge der Grumbach-Fehde geächteten Ernst von Mandelslohe erörternd, urteilte der Kölner Votant, weil "die sache hochwichtig" sei, sei sie "alhie nicht zuvorrichten", sie müsse "biß uf kunfftigen reichstagk zu gemeiner stende beratschlagung gestellt" werden (209). Aber was war für einen Kurfürstentag allzu "wichtig"? Grundsatzdebatten über diese - sich uns Heutigen geradezu aufdrängende - Frage lagen dem 16. und frühen 17. Jahrhundert sichtlich fern, die Kurfürsten führten sie nicht, und vor den 1630er-Jahren auch nicht die Altfürstlichen. Die Kurfürsten gaben eben dem Kaiser Ratschläge, und dieser war gut beraten, wenn er auf seine Kurfürsten hörte. Die Verbindlichkeit solcher Ratschläge für "das Reich" blieb, ehe die Fürstenpartei, langfristig erfolgreich, das legislative Monopol für den Reichstag einfordern wird, in einer Grauzone.
Insofern wurde an (wählenden wie nichtwählenden) Kurfürstentagen Reichspolitik gemacht, und deshalb lohnt auch ihre Dokumentation. Den Optimismus des Vorworts, dass "die Reichsversammlungen der ferdinandeischen und maximilianeischen Zeit in absehbarer Zukunft vollständig vorliegen werden", teilt der Rezensent nicht, weiß er doch, dass allein in diesem Zeitraum vier nichtwählende Kurfürstentage (sowie ein 'wahltagsähnlicher', 1558) stattfanden. An Kurfürstentagen fehlt es im Konfessionellen Zeitalter nicht, vermutlich fehlt vorerst das Geld, sie alle zu dokumentieren. Am handwerklichen Niveau der jetzt vorgelegten Edition gibt es nichts auszusetzen.
Christiane Neerfeld (Bearb.): Der Kurfürstentag zu Regensburg 1575 (= Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, 423 S., ISBN 978-3-11-043853-6, EUR 139,95
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