Mit Michail Larionow (1881-1964) widmet sich Sarah Warren einem Künstler, der ungeachtet einiger Monografien [1], nicht selten unter Einbeziehung seiner Partnerin Natalia Gontscharowa [2], im Schatten von Wassily Kandinsky, Marc Chagall oder Kasimir Malewitsch steht. Dabei hat er in besonderem Maße auf Experiment und Herausforderung gesetzt. Die Verfasserin verortet ihren Protagonisten nicht, wie häufig üblich, ausschließlich im als autonom angenommenen Feld avantgardistischer künstlerischer Bestrebungen. Vielmehr befragt sie die bildkünstlerischen, literarischen, performativen und kuratorischen Aktivitäten von Michail Larionow zwischen der ersten russischen Revolution von 1905 und den Feierlichkeiten anlässlich des 300-jährigen Thronjubiläums der Romanow-Dynastie 1913 bezüglich ihrer (kultur)politischen Sprengkraft. Bisher ist es vor allem die nach-revolutionäre und die sowjetische Avantgarde gewesen, die als hochgradig politisierte Kunst ausgestellt und analysiert worden ist. [3] Warren hätte sich auf Klaus von Beyme beziehen können, der länderübergreifend die spannungsvolle Verwobenheit der Avantgardebewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in politische Zusammenhänge dargestellt hat. [4] Wie viele Autorinnen und Autoren aus dem angelsächsischen Raum beschränkt sie sich aber auf russisch- und englischsprachige Quellen und Forschungen.
Warren geht von der Diversität und der Dynamik von Positionen und Handlungsstrategien innerhalb der russischen Avantgarde aus. Sie stellt Larionow als einen Künstler vor, der in seinem ästhetischen Handeln von Anfang an auf gesamtgesellschaftliche Phänomene reagierte und Autoritäten jedweder Art mal offen, mal subtil herausforderte. Das gilt insbesondere im Hinblick auf Konstruktionsmechanismen der nationalen Identität, die im Russischen Kaiserreich in der Zeit einer existenzbedrohenden Krise von unterschiedlichen Akteuren öffentlich und polemisch verhandelt wurden.
Kapitel 1 beleuchtet die Instrumentalisierung von Erscheinungsformen des Exotischen im späten Russischen Kaiserreich, dessen Quellen auf eigenem Territorium ausgemacht und deshalb in der westlichen Wahrnehmung lange ignoriert wurden. Warren arbeitet die Ambivalenz von Larionows neo-primitivistischen Bildwelten im russischen Kontext selbst heraus. So interpretiert sie z.B. das Gemälde "Gypsy of Tiraspol" (1909) als Beispiel der zeittypischen Gauguin-Rezeption in Russland, dabei aber auch als Gegenbild zur am Petersburger Hof gepflegten "Zigeunerromantik" mit ihren erotischen Versprechen. Das Gemälde "Turkish Lady and Maidservant" (1911) wiederum verbindet Klischees des Orientalischen mit der städtischen Folklore, die dem aus dem bessarabischen Tiraspol stammenden Larionow bestens vertraut war. Die "Katsap Venus" (1912) schließlich verweist nach Warren durch den ukrainischen, bewusst herabwürdigenden Bildtitel auf ethnische Konflikte im Russischen Imperium. Darüber hinaus spiele die Figur durch die Kombination einer "klassischen" Pose mit derben Formen und greller Buntfarbigkeit auf das Aufeinandertreffen von städtischer Decadence und bäuerlicher Bodenständigkeit an, die in Russland sowohl romantisiert als auch gefürchtet wurde.
In Kapitel 2 wird der Widerstand der russischen Avantgardekünstler gegen die vom Hof protegierte und akademisch gesteuerte Wiederbelebung der bäuerlichen Volkskunst thematisiert, bei der es sich eigentlich um eine Neuschaffung derselben als Unterpfand einer vermeintlichen Rückbindung der Autokratie im Volk handelte. Dies geschieht durch die Gegenüberstellung der "Ausstellung von Ikonenhandbüchern und Volksbilderbögen" und der Ausstellungen "Eselsschwanz" und "Zielscheibe" 1912 in Moskau mit der im Umfeld des Romanow-Jubiläums 1913 gezeigten "Zweiten All-russischen Ausstellung der Volkskunst" in St. Petersburg. Die Verfasserin verdeutlicht, dass Larionow und seine Anhänger bewusst Beispiele einer zeitgemäßen, vulgären und widerständigen städtischen Volkskunst rezipierten und präsentierten, die sich nicht in das imperiale Narrativ integrieren ließen.
Kapitel 3 und 4 sind der Aktualisierung der Ikonenmalerei gewidmet, die die Gemüter im damaligen Russland bewegte [5] und mit unterschiedlichen Intentionen als identitätsstiftend wahrgenommen wurde. In einem ersten Schritt spürt Warren Larionows Rezeption der Ikonenmalerei in Gestalt des von ihm und Gontscharowa zwischen 1911 und 1913 entwickelten und in einem Manifest propagierten Rayonismus nach. Dieser Ismus gilt wie auch Malewitschs Suprematismus seit Alfred Barr als Spielart abstrakter Kunst. Warren betont, dass die Ikone für Larionow nicht so sehr aus formalen und wahrnehmungstheoretischen Gründen von Interesse gewesen sei, sondern vielmehr als wirkmächtiges Bildkonzept mit performativen Qualitäten: "Moreover, Larionov's invocation of the icon was not meant to usher in a new era of spirit, but to make the work of art more forceful, so that it, like the icon itself, could intervene into the material and emotional life of its viewer." (106) In einem zweiten Schritt wird Larionows Verhältnis zur Ikone mit den Ansichten breiter Kreise der russischen Gesellschaft, darunter Ikonenspezialisten wie Nikodim Kondakow und Pawel Muratow, konfrontiert. Dies geschieht mit Blick auf die als Sensation gefeierte "Ausstellung altrussischer Kunst" von 1913. Zu sehen waren frühe, von Altgläubigen bewahrte Novgoroder Ikonen, die mit expressiven Formen und ihrer wieder sichtbar gemachten koloristischen Strahlkraft begeisterten.
Im abschließenden Kapitel 5 werden Larionows 1912 einsetzende, von den italienischen Futuristen inspirierte Aktionen analysiert. Warren zeigt, dass der Charakter dieser Aktionen in Form von Vorträgen, öffentlichen, von Tumulten begleiteten Debatten und Straßenaktionen mit "vorzeitlicher" Gesichtsbemalung und grellbunten Kostümierungen sowie Larionows feindliche Haltung gegenüber Marinetti nur vordergründig nationalistisch gemeint war. Vielmehr richtete er sich nach Warren eigentlich gegen das zaristische kulturelle Establishment, das mit dem kultivierten Westen gleichgesetzt wurde.
Sarah Warren leistet mit ihrem 2013 erschienenen Buch Mikhail Larionov and the Cultural Politics of Late Imperial Russia einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Erforschung der russischen Avantgarde und ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung und Relevanz.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Anthony Parton: Mikhail Larionov and the Russian Avant-Garde, London 1993; Jewgeni Kowtun: Michail Larionow, Bournemouth1998; Глеб Поспелов / Евгения Илюхина: М. Ларионов. Живопись. Рисунок. Театр, Москва 2006.
[2] Н. Гончарова. М. Ларионов. Исследования и публикации. Ред.: Г. Ф. Коваленко, Москва 2001.
[3] Ausst.-Kat. Kunst und Revolution. Art and Revolution, hrsg. vom Österreichischen Museum für Angewandte Kunst, Wien, Wien 1988; Ausst.-Kat. Die Große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932, hrsg. von Bettina-Martine Wolter / Bernhart Schwenk, Schirn Kunsthalle, Frankfurt, Frankfurt 1992; Hubertus Gaßner (Hrsg.): Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den zwanziger Jahren, Marburg 1992.
[4] Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005.
[5] Vgl. Verena Krieger: Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der russischen Avantgarde, Köln / Weimar / Wien 1998.
Sarah Warren: Mikhail Larionov and the Cultural Politics of Late Imperial Russia, Aldershot: Ashgate 2013, XII + 194 S., 24 Abb., ISBN 978-1-4094-4200-4, GBP 60,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.