1825 gab es in ganz England genau zwei Universitäten, Oxford und Cambridge. Beide waren mehr als 500 Jahre alt, es konnten nur Männer studieren, und die Studenten mussten einen Eid auf die 39 Artikel der anglikanischen Staatskirche ablegen. In den folgenden 100 Jahren änderte sich die Situation grundlegend: 1925 konnten junge Menschen fast überall in der britischen Provinz und auch im Empire ein Studium absolvieren - egal ob sie weiß oder schwarz, Anglikaner oder Katholiken, Männer oder Frauen waren. William Whytes neues Buch beschreibt, wie es zu dieser Expansion und Öffnung der höheren Bildung kam. Er konzentriert sich dabei auf England, bezieht aber an vielen Stellen auch das Empire und die anderen Nationen des Vereinigten Königreichs in seine Betrachtung ein.
Dabei verfolgt Whyte eine zentrale These: Der Ausbau höherer Bildung ist nur zu verstehen, wenn man ihn als Prozess der Modernisierung begreift. Es wäre aber zu kurz gegriffen, diese Entwicklung als linearen Fortschritt großer Ideen zu beschreiben. Vielmehr kommt es auf den sozialen Kontext und die räumlichen wie materiellen Praktiken der Bildungsreform an. Whyte greift dabei auf die Theorien von Pierre Bordieu und Bruno Latour zurück. Hier erweist er sich ganz als Schüler seines akademischen Lehrers Ross McKibbin, dem Whyte inzwischen auch als Fellow am St. John's College nachgefolgt ist. McKibbin hat in Oxford eine Generation von jungen Historikern geprägt, die mit Theorien umgehen kann und trotzdem in bester englischer Tradition sinnhaft und anschaulich erzählt. So kommt Whyte zu folgendem Schluss: Der Ausbau höherer Bildung war weniger eine Antwort auf ökonomische Bedürfnisse als ein - im Rückblick ziemlich erfolgreicher - Versuch der Gründer von Hochschulen, eine moderne Wissensgesellschaft zu erschaffen.
Die ersten Pläne für neue Universitäten entstanden, wie so viele Einrichtungen des modernen Großbritannien, als Reaktion auf den doppelten Schock der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die Impulse dazu kamen aus zwei politischen Richtungen: Loyale Tories setzten sich für eine strikt monarchistische und anglikanische Erziehung ein, Whigs und Angehörige der Freikirchen, die sogenannten dissenter, wollten hingegen die Fesseln der Staatskirche im Bildungsbereich abstreifen. Die Pläne für neue Universitäten, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erdacht wurden, hatten daher zumeist eine restaurative oder utopische Schlagseite. In London entstand das University College am Russel Square als liberaler Entwurf einer nichtkonfessionellen Universität für die städtische Mittelklasse, während das King's College von Anhängern der Church of England konzipiert wurde, für die studierende Katholiken nach wie vor eine Teufelei darstellten.
Tatsächlich dümpelten die neuen Universitäten zunächst für drei Jahrzehnte vor sich hin. Es gab in den 1820er Jahren noch keinen großen Bedarf an jungen Akademikern. Das University College London rettete sich mit Gasthörern und Medizinstudenten über die prekären ersten Jahre. In Manchester und Birmingham wurden Colleges von wohlhabenden Gentlemen gegründet, die keine Erben hatten. John Owens (1790-1846) gründete das Owens College, die Keimzelle der Universität von Manchester als liberales Vorzeigeprojekt, während Samuel Warneford (1763-1855) mit dem Queen's College in Birmingham die Midlands auf der Seite von König und Kirche halten wollte. Owens war als Baumwollhändler zu Reichtum gekommen und hatte selbst nicht studiert; Warneford bezog die Mittel für seine Philanthropie aus Pachteinnahmen und dem gewaltigen Erbe seiner Familie. Beide Projekte entsprangen also eher den politischen und wohltätigen Motiven ihrer Stifter als einem ökonomischen Bedarf an Hochschulbildung in den Industriestädten Manchester und Birmingham.
Eine solche Nachfrage entstand zuerst in Irland und den weiter entfernten Kolonien des Empire. Denn hier ließ sich der enorme Bedarf an Ingenieuren und mittleren Verwaltungsbeamten nicht mehr ausschließlich durch Importe aus dem Mutterland decken, zudem wollten und konnten sich nicht alle Kinder der kolonialen Eliten ein Studium auf der weit entfernten, nasskalten und schwer zu erreichenden Insel leisten. Erst nach 1870 explodierte dort die Nachfrage nach formaler Bildung. Das lag vor allem an der allgemeinen Schulpflicht, die schrittweise ab 1870 eingeführt wurde. Bis dahin hatte ein Schulabschluss ausgereicht, um als Angehöriger der Mittelklasse zu gelten. Nun musste man mehr vorzeigen können, um dazuzugehören, und Hochschulabschlüsse (degrees) kamen in Mode. Um 1900 schließlich brach die heroische Epoche der höheren Bildung an den "bürgerlichen" Universitäten an. Elektrotechnik, Chemie und Ingenieurwesen galten als die Disziplinen der Zukunft. Nur im Fach Chemie konnte Cambridge mithalten, wohingegen Ingenieure in den Industriestädten der Provinz ausgebildet werden wollten und sollten. Junge Frauen betraten ein Terrain voller Chancen, aber auch moralischer Unsicherheiten, wenn sie den Schritt an die Universität wagten, zumeist um später als Lehrerinnen zu arbeiten.
Alle sozialhistorischen Entwicklungen rund um die "Ziegelsteinunis" spiegelten sich in Debatten um die Architektur der neuen Universitäten wider. Der Begriff wurde übrigens erst 1943 geprägt, als mitten im Krieg ein Buch unter dem Titel "Red Brick University" erschien, das - wie sollte es anders sein - ein Manifest zur Reform der modernen Universitäten war. Reform und Erneuerung waren auch die Leitmotive der Baupläne für alle neuen Universitäten seit dem frühen 19. Jahrhundert. Den Gründern des University College London in den 1820er Jahren schwebte ein neoklassischer Wissenspalast vor, der den Bruch mit der verzopften Oxbridge-Welt nach außen sichtbar machen sollte. Doch die Pläne waren so grandios, dass die Universität dadurch fast ruiniert wurde, bevor der Lehrbetrieb begonnen hatte. Seit den 1850er Jahren wurden neue Universitäten bevorzugt in Neogotik oder Neotudor gebaut, da diese Stile als besonders christlich und sozial wertvoll galten. Sie evozierten die vermeintliche Stabilität einer imaginierten Vergangenheit. In den 1960er Jahren schließlich wurde die moderne Architektur selbst zum Ziel von Spott und Kritik der britischen 68er: "where once there had been people, they built long and white" (265), hieß es über den Umbau der University of Liverpool. Hinter der Sehnsucht nach der viktorianischen Epoche stand ein Verlangen nach Stabilität und Ordnung, das die Studenten der 1960er Jahre als soziale Aufsteiger in die Mittelklasse ausweist.
Vieles an Whytes Studie ist gelungen, besonders der Versuch, eine durchgehende Geschichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert zu erzählen. Whyte ist Professor in Oxford. Daher stellt sich die Frage: Hätte ein Werk, das von so viel Selbstbestimmung zeugt, auch woanders geschrieben werden können? An einer "Ziegelsteinuni" oder einer deutschen Exzellenzfabrik, die allein auf staatliche Mittel angewiesen ist und Ergebnisse liefern muss? Whyte jedenfalls konnte dank der Freiheit der Oxbridge-Welt sein Projekt über zehn Jahre verfolgen und zu Ende führen. In diesem Sinne lässt sich "Redbrick" auch als Plädoyer für mehr Mut und Offenheit an den Universitäten lesen - nicht nur, aber auch, in Großbritannien.
William Whyte: Redbrick. A social and architectural history of Britain's civic universities, Oxford: Oxford University Press 2015, XVII + 389 S., 50 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-871612-9, GBP 65,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.