sehepunkte 16 (2016), Nr. 10

Katharina Anna Groß: Visualisierte Gegenseitigkeit

Wohl kaum könnte sich, jedenfalls aus Sicht des Mediävisten, für die gemeinsame deutsch-französische Betreuung einer Dissertation ein besseres Thema anbieten als ein solches zu Lotharingien. Die vorliegende Arbeit, die primär im Bereich der Diplomatik zu verorten ist, wurde von Brigitte Kasten und Laurent Morelle, unterstützt vom 'Altmeister' der Lotharingien-Forschung, Michel Parisse, betreut und 2012 in Saarbrücken und in Paris als Dissertation angenommen.

Hätte es überhaupt noch irgendeines Beweises bedurft, dass Urkundenforschung weit mehr ist als eine historische Hilfswissenschaft im von Brandt'schen Sinne, Groß hätte ihn mit ihrer Arbeit zu den Prekarien und Teilurkunden eindrucksvoll gegeben. Sie bietet über die rein diplomatischen Untersuchungen hinaus, und daraus abgeleitet, eine breite Palette an detaillierten und tiefgehenden Analysen und Aspekten zur Sozial-, Wirtschafts-, Kultur-, Institutionen-, Rechts-, Verwaltungs- und Herrschaftsgeschichte, die sie in souveräner Manier interdisziplinär beherrscht. Das reichlich gefüllte Literaturverzeichnis spiegelt diese Bandbreite übrigens beeindruckend wider.

Ihre leitende Fragestellung schöpft Groß aus der Beobachtung, dass sich in Lotharingien die tradierte Praxis der Prekarien und die Teilurkunde als Urkundenform (also nicht etwa in einem inhaltlichen Sinne, als teilende oder unvollständige Urkunde oder Ähnliches) sehr früh (gesichert erstmals 931) verbanden und dass die jeweiligen Grundelemente so zu einer besonders ausdrucksvollen Form von "visualisierter Gegenseitigkeit" (Titel) verschmolzen. Diese Entwicklung nicht nur chronologisch und vor allem en détail, in ihren vielfältigen Implikationen und weitreichenden Folgen aufzuzeigen, ist die Zielsetzung von Groß. À propos Chronologie: Selbstverständlich stellt sich Groß auch der in der Lotharingien-Forschung altbekannten, doch zu jedem neuen Thema immer wieder neu zu reflektierenden Frage, inwieweit Entwicklungen und Strömungen Lotharingien in einer Mittlerrolle zeigen oder ob sie gar als innovativ zu kennzeichnen sind (siehe unten).

Bevor Groß ihre Zielsetzung angeht, erläutert sie in einer umfangreichen Einführung (1-42) die Grundlagen und Vorbedingungen. Zunächst nimmt sie die notwendigen Begriffserklärungen (Prekarie; Teilurkunde; Chirograph[ierung]) vor. Die Präsentation der Quellenlage und ein Gang durch die Forschung bis auf den aktuellen Stand, der einige Desiderate offenbart, schließen sich an. In diesem Kontext steckt Groß auch den Zeitraum und den geographischen Rahmen ihrer Untersuchungen ab. Ihrer Einschätzung, dass für den behandelten Zeitraum 900-1121 die Überlieferung "insgesamt spärlicher" (18) ausfalle, wird man sich nur bedingt anschließen können, blickt man zu gleicher Zeitstellung auf benachbarte Räume wie etwa Burgund mit Cluny, Savigny, Saint-Vincent in Mâcon et cetera, vom Südwesten Frankreichs mit den Beständen etwa von La Sauve Majeure oder Lézat ganz zu schweigen. Den Untersuchungsraum Lotharingien begrenzt sie mit gutem Grund, nämlich aus der Sachlage zu ihrer Thematik heraus, auf die Kirchenprovinz Trier (Trier, Metz, Toul, Verdun) und die Diözese Lüttich. Innerhalb dieses kirchengeographisch definierten Untersuchungsraums wählt sie neben den fünf Bischofskirchen selbst anhand der Kriterien "Bedeutung" und "Urkundenüberlieferung" (23) auch zwölf Klöster zur Untersuchung aus, was insgesamt 240 Originale und 626 Kopien als Quellenbasis ergibt, darunter 198 Prekarien, 47 Teilurkunden und 26 weitere für die Thematik einschlägige Urkunden. Die Einführung abschließend, vertieft Groß ihre Zielsetzung und stellt hierbei auch ihre Methodik vor: 1. Bestandsaufnahme, 2. Analyse der Formen und Inhalte, 3. Interpretation der Phänomene. Gut strukturiert, nicht zuletzt durch eine überzeugende Zweiteilung der Arbeit (systematisch - fallorientiert), und in einer beeindruckend systematischen Vorgehensweise geht sie im Folgenden diese Schritte.

Der systematische Block (Teil II) folgt in den einzelnen Untersuchungen stets demselben Schema, was die Vergleichbarkeit und die Aussagekraft der Erkenntnisse zweifellos untermauert. So weist Groß überzeugend beispielsweise nach, dass im Untersuchungsraum die Entscheidung zur Herstellung einer Teilurkunde zumeist vom Aussteller, oft aus bischöflicher Initiative fiel (76 f.), die Tendenz zur Ausstellung einer Prekarie in zwei Exemplaren schon um 900 deutlich erkennbar ist (84) - nach Groß "Vorläufer" (84) mit '?', zumindest aber doch eine Vorbedingung für die Verschmelzung von Prekarie und Teilurkunde -, die klösterlichen Prekarien primär die wirtschaftliche Bedeutung der Einrichtungen widerspiegeln (vergleiche Michel Parisse), oder dass die Prekarien hier, zumal im Gang der Entwicklung, eine "große Variabilität" (126) aufweisen, die in formaler Hinsicht die "Freiheit zu neuen Entwicklungen" (150) aus Tradition und Innovation impliziert habe. Besonders überzeugen können die weiteren Analysen zu den formalen Aspekten, aus denen die "Begegnung zwischen Prekarie und Teilurkunde" (167) in Lotharingien zwischen (928/)931 - der ersten Teilurkunde - und 1052 - der letzten Prekarie - genau festgemacht werden kann. Groß gibt in diesen systematischen Einzeluntersuchungen ein geradezu musterhaftes Beispiel für die gelungene Interpretation aus statistischen und tabellarischen Erhebungen, derer sie sich bedient. Man wird aber dennoch anmerken dürfen, dass sie bei aller Vorsicht und Ausgewogenheit im Urteil dem Faktor 'Überlieferungszufälle' erstaunlich wenig Rechnung trägt. Nach dem Schwerpunkt Prekarien (77-171) behandelt Groß in gleicher Intensität die Teilurkunden (172-261), zunächst mit der Frage nach Herkunft und Verbreitung. Wichtig scheint die gegen ältere Hypothesen erhobene Feststellung, dass die Form der Teilurkunde "zuerst in England nachweisbar" (181) ist, wobei Groß die Frage, ob sie von dort aus nach Lotharingien gekommen sein kann, trotz intensiver Recherche letztlich offenlassen muss. In diesen wenigen Passagen, und nur hier, erscheint die Arbeit ausnahmsweise etwas sprunghaft. Die weitere Verbreitung innerhalb Lotharingiens und von Lotharingien aus stand jedenfalls, wie Groß überzeugend nachweisen kann, im Kontext der Klosterreform. Die Bezeichnung "Katalysator" (187) erscheint freilich unpassend. Lotharingien zeigt sich somit auch hier, wie auf vielen anderen Gebieten, "innovativ" (190), womit Groß eine klare Antwort auf die eingangs erhobene, immer wiederkehrende Frage in der Forschung zu Lotharingien gibt. Nach der Analyse zu Ausstellern und Empfängern der untersuchten Teilurkunden folgt eine detaillierte, größte Fachkenntnis widerspiegelnde Analyse zu deren äußeren und inneren Merkmalen. Gewisse Redundanzen und Wiederholungen, die hier festzustellen sind, lassen sich sicher nicht vermeiden. Sehr deutlich arbeitet Groß schließlich die Funktionsentwicklung in der Chirographierung heraus: zunächst eine Beglaubigungsfunktion, dann eine didaktisch-administrative Funktion neben einer symbolisch-sozialen und zuletzt eine machtpolitisch-repräsentative Funktion, aus der die Praxis der Teilurkunde im 12. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht habe, bis sie von der Siegelurkunde abgelöst worden sei. Im Fazit zu Teil II betont Groß unter anderem die Verschmelzung lokaler Traditionen mit externen Einflüssen in Lotharingien - also doch ein 'Import' der Teilurkunde aus England?! - zu wegweisenden "Innovationen" (263).

Teil III mit seinen Fallstudien zu verschiedenen Phasen in der Geschichte der "Begegnung" (Kapitelüberschrift) von Prekarie und Teilurkunde bietet nicht nur für die Diplomatik eine wahre Fundgrube, die Groß dem Leser wiederum in profunder Fachkenntnis erschließt. Zu den Anfängen (931 folgende) zeigt sie an ausgewählten Beispielen adlige Netzwerke auf, sodann für die Phase um 1000 allmähliche Übergänge zum Lehnsrecht, anschließend den Niedergang der Prekarie in der Mitte des 11. Jahrhunderts und schließlich die Funktion und Bedeutung der Teilurkunde im Investiturstreit in Lotharingien bis in die Anfänge des 12. Jahrhunderts.

Das Schlusskapitel ist angesichts der in der Arbeit gebotenen Fülle an Material, Inhalten und Aspekten etwas knapp geraten, kann aber die Innovationen im lotharingischen Urkundenwesen des 10. und 11. Jahrhunderts als unmittelbare Folge neuer bzw. veränderter, hauptsächlich gesellschaftlicher Entwicklungen nochmals verdeutlichen. Sehr wertvoll ist auch der dreigliedrige Anhang, insbesondere wegen der Edition zweier bislang ungedruckter Teilurkunden und des chronologisch gefassten Katalogs der behandelten Teilurkunden. 45 Hochglanzabbildungen, zum Teil in Farbe, und das Register runden diese gelungene Arbeit ab.

Es steht wohl außer Frage, dass das Buch von Groß einen gewichtigen Platz in der Forschung einnehmen wird. Und dies nicht nur, weil es geradezu als ein Meisterstück für den Nachweis sozialgeschichtlicher und weiterer (siehe einleitend oben) Implikationen diplomatischer Forschung gelten kann, sondern auch aufgrund seiner Tiefenschärfe, und dies wiederum im Rahmen eines weit gefassten Untersuchungsraums. Die Relevanz übergreifender Ergebnisse und Erkenntnisse gegenüber engen, lokal oder beispielsweise diözesan begrenzten Studien, ist offensichtlich.

Rezension über:

Katharina Anna Groß: Visualisierte Gegenseitigkeit. Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11. Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich) (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften; Bd. 69), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, LXIV + 388 S., 45 Farbabb., ISBN 978-3-447-10161-5, EUR 55,00

Rezension von:
Thomas Bauer
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Bauer: Rezension von: Katharina Anna Groß: Visualisierte Gegenseitigkeit. Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11. Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/10/28185.html


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