sehepunkte 16 (2016), Nr. 10

Alexander Heinemann: Der Gott des Gelages

Gegenstand der Studie sind Darstellungen der dionysischen Welt auf attischem Symposiongeschirr mit Blick auf die Relation von figürlichem Dekor zum Bildträger. Neben Trink-, Weinmisch- und Giessgefässen sind auch mehrere andere, weniger auf das Gelage fokussierte Formen einbezogen. Dabei geht es um die von den Bildern im Gelage ausgelösten pragmatischen und kommunikativen Prozesse. In acht Kapiteln werden folgende Fragen behandelt: Kontexte der Verwendung und Betrachtung, die äussere Erscheinung des Dionysos und der Satyrn, das Satyrspiel als Bildthema, dionysische Mythen im Symposionkontext, Rollenspiele der Satyrn, dionysische Rituale, Satyrkinder und Schluss.

An welches Publikum richteten sich Athens Töpfer und Maler? Trotz der weiträumigen, nicht nur griechischen Nachfrage ist davon auszugehen, dass für sie die Werte und Vorstellungen Athens - besser gesagt, der athenischen Männer - galten. Die spärlichen Angaben über Preise einzelner Vasen und die sehr nützliche Zusammenstellung der Wohn- und öffentlichen Räume in ganz Attika als Fundorte solcher Keramik ergibt eine sozial eher breite als exklusive Schicht von Abnehmern. Zur Wirkung kamen die Bilder allerdings vorab im umgrenzten, autonomen Mikrokosmos des Symposions, wo durch den Wein eine entspannte gemeinschaftlich gestimmte Atmosphäre entstand. Angestrebt waren allerdings nicht konkrete Botschaften, sondern Anregungen zum Reflektieren und Diskutieren.

Das zweite Kapitel setzt mit der vielbesprochenen Verwandlung des Dionysos von einer Vater- in eine auch erotisch wirkende Sohnfigur bald nach der Mitte des 5. Jahrhunderts ein. [1] Es ist unwahrscheinlich, dass eine inhaltlich so einschneidende ikonographische Innovation, die bis zum Ende der Antike nachgewirkt hat, vom Kerameikos ausgegangen ist. Vielmehr haben sich die Vasenmaler von einem öffentlich exponierten Werk, wie der seit langem als Dionysos identifizierten Figur D im Parthenon-Ostgiebel, inspirieren lassen. [2] Der jugendliche nackte, entspannt daliegende Gott wird, wie die frühere Vaterfigur, als "Träger einer auf Wohlleben und Annehmlichkeit zielenden Lebensführung" interpretiert. Die folgende längere Diskussion der Satyrgestalt erweist sie "in ihrer äusseren Erscheinung als Träger einer konstanten und wesenhaften Festlichkeit". Die Bezeichnung "Mischwesen" für den Satyrn hält die Rezensentin allerdings für inadäquat, weil sie ihn dadurch implizit, wie seit dem 19. Jahrhundert üblich, in die Wildnis, bzw. in eine mythische Gegenwelt verweist, seine Zugehörigkeit auch zur menschlichen Welt aber ausblendet.

Unter den erotischen Beziehungen in der Welt des Dionysos kommt jene der Satyrn zu ihren weiblichen Partnern am häufigsten vor. Hierher gehört die vieldiskutierte, für die inhärente Vieldeutigkeit der dionysischen Bilderwelt bezeichnende Frage nach der korrekten Nennung dieser Frauen: Mänaden, also von Mania befallene, Bakchen, also mit Dionysos/Bakchos rituell verbundene, oder Nymphen, also sowohl im Mythos wie in der Lebenswelt erotisch attraktive junge Frauen? Anstatt sie neutral zu bezeichnen bleibt der Autor bei der konventionellen, eher negativ tönende Nennung Mänade. Gut beobachtet ist, dass sich die spätarchaischen Maler für das Verhältnis des Paares eher der Metapher des Kampfes, die frühklassischen aber jener der Verfolgung bedienen. Wobei nicht der Ausgang der Auseinandersetzung, sondern deren Dynamik interessierte. Es fällt allerdings auf, wie dieser Konflikt oft wie ein Tanz oder eine Pantomime wirkt: ein Beispiel ist Abb. 125. Hierher gehört auch die Beziehung des Gottes zu Ariadne, deren Hochzeit aber erst in einem späteren Teil besprochen wird. Unausgesprochen bleibt das Paradox, dass diese paradigmatische Hochzeit eigentlich einem Ehebruch gleichkommt. Fazit dieses Kapitels ist, dass "sowohl im Hinblick auf den Wein als auch auf erotische Freuden die Satyrn und Dionysos einander ergänzende Konstellationen des Verlangens und Verfügens zum Ausdruck bringen".

Im nächsten Kapitel geht es um das Verhältnis der Vasenbilder zum Satyrspiel. Bei der leidigen Abhängigkeitsfrage heisst es zu Recht, dass die dichterische Version nicht glaubwürdiger ist als die bildliche und die Mythen keineswegs je älter desto genuiner sind. [3] Da das Gelage wie die Bühne Schauplatz von Rollenwechseln war, deutet der Autor die vor Dionysos tanzende, den Phallosschurz tragende Frau überzeugend analog zu den Hetären, die sich im Symposion als Waffentänzer produzierten.

Im zentralen fünften Kapitel werden fünf mythologische Bildmotive um Dionysos bzw. die Satyrn behandelt. Das erste ist seine Rückführung des Hephaistos in den Olymp. Heinemann interessierte hier vorab die positive Rolle des Weins. Für die Rezensentin ist die zeitliche Koinzidenz des frühesten Auftretens des mit seiner Zange ausgestatteten Feuergottes mit dem historisch gut bezeugten Rückruf der attischen Handwerker in die Heimat durch Solon nach wie vor kaum zufällig. [4] Da beide Deutungen sich sinnvoll ergänzen - warum sollen Solon und sein Werk kein Symposionthema gewesen sein? -, ist die teils auf Missverständnis beruhende Polemik (267) überflüssig. Dass Hephaistos, der in Athen einen zentralen Kult besaß, wie Dionysos, der aus einer sowohl mütterlichen wie väterlichen Schwangerschaft hervorgegangen war, illegitime marginalisierte Götter gewesen sein sollen (275), ist nur eine hartnäckig wiederholte, durch keine Überlieferung bezeugte Konvention.

Nachdem das Kind Dionysos von den Nymphen der Wildnis aufgezogen wurde - das zweite Thema des Kapitels - leuchtet das Verständnis der Bilder seiner Übergabe als Bestätigung der Oikos-Ordnung kaum ein. Teilen wird man hingegen die Skepsis gegenüber der Deutung der von Satyrn bedrängten Hydrienträgerin auf die Amymone des aischyleischen Satyrspiels. Da der Symposionwein bekanntlich verdünnt wurde, interessierten wohl vor allem Geschichten von Wasserträgerinnen. Dass das vierte Thema, die Übergabe des Feuers an die Satyrn durch Prometheus auf Vasen relativ oft vorkommt, lässt sich nicht nur mit der Analogie Feuer-Wein erklären. [5] Im Satyr Marsyas - das fünfte Thema - sahen die Vasenmaler offenbar weniger den grausam Bestraften als einen der begnadeten Vorbilder für die beim Gelage auftretenden Musiker.

Dionysische Rollenspiele zeigen Satyrn in unterschiedlichen Situationen: als Handlanger für das Fest, als Hersteller des Weins, als Handwerker, heroische Taten persiflierend [6], im Kampf und bei der Jagd. Auf einigen Schalen treten bakchisch einweihende Satyrn metaphorisch als erotisch werbende auf, was für die Rezensentin nur bestätigt, dass in vorchristlicher Zeit Sexualität und Religiosität durchaus vereinbar waren. Behandelt werden hier auch die nach 470 v.Chr. immer öfter im Himation, also in der Bürgertracht auftretenden Satyrn. Dies passt zum gleichzeitigen Rückgang der Symposionsszenen zugunsten sakraler Handlungen als Ausdruck des Polislebens.

So kommen schließlich verschiedene dionysische Rituale in den Blick: die hier überzeugend neu gedeuteten Schaukelszenen, der Hieros Gamos des Gottes mit Ariadne bzw. der Basilinna als Voraussetzung für seine Gabe des Weines, der Transport eines Lehnstuhls für ihn. [7] Die Kleinkinder auf den berühmten Choenkännchen sind als noch nicht domestizierte Wesen mit den Satyrn verwandt und daher ebenfalls auf das Symposion beziehbar. Nur teilweise ist dies bei den ekstatisch tanzenden Frauen in dionysischen Ritualen möglich [8], die vielmehr Dionysos' Wirken im weiteren gesellschaftlichen Umfeld beleuchten.

Bilder von Satyrkindern leiten das Schlusskapitel ein. Es wäre nicht möglich, in der gebotenen Kürze meist zustimmend, manchmal aber kontestierend auf alle hier vorgebrachte zusammenfassende Argumente einzugehen. [9] Heinemanns gut lesbare, reich illustrierte, durchaus anregende Studie [10] mit ihren fast immer überzeugenden Bildinterpretationen bestätigt die zentrale Rolle des Symposions - und damit des Symposiongottes Dionysos - in der klassischen Polis. [11] Ein Zweifel bleibt allerdings: Hat der angeblich auf Genuss und Luxus fokussierte Gott des Gelages nicht wieder einmal den Polisgott Dionysos verdrängt?


Anmerkungen:

[1] Zu den Abb. 20 und 288: Der Kopenhagen Maler hat als Syriskos signiert: A. Lezzi-Hafter: Der Neue Pauly 11, 2001, 1187, s.v. Syriskos. Die Spitzamphora in Zürich ist sein Werk (und nicht des Oreithyia Malers): J. Boardman: Rotfigurige Vasen aus Athen. Die klassische Zeit, Mainz 1991, 31 Abb. 31.

[2] Heinemann vermisst an dieser Figur die auf die Schultern herabfallenden Locken neben dem sich klar abzeichnenden Zopf um den Hinterkopf. Diese sind allerdings wohl verwittert: Der Kopf der Figur D - dies zeigt gerade Abb. 21 - ist heute jedenfalls zu klein. Eine Deutung dieses Dionysos aus dem Gesamtkontext der Parthenonskulpturen und eine Rekonstruktionszeichnung der Rezensentin, die bereits 2010 und auf Italienisch 2011 publiziert worden sind (die auch D. Williams bei seinem 2013 publizierten Identifikationsvorschlag als Ares nicht berücksichtigt hat) finden sich jetzt in ihrem Buch "Dionysos in Classical Athens. An Understanding through Images", Leiden / Boston 2015, 166-177. Dazu positiv B. Özen-Kleine: Das Phänomen der 'Verjüngung' im klassischen Athen. Zur Bedeutung von Altersstufen in der Bilderwelt des 6. und 5. Jahrhunderts v.Chr., Wiesbaden 2016, 135-138.

[3] Sie sind vielmehr bis in späte Zeiten immer neu und immer mit gleichem Gültigkeitsanspruch erzählt bzw. dargestellt worden, vgl. J. Rudhardt: Du mythe, de la religion grecque et de la compréhension d'autrui, Revue européenne des sciences sociales 19, no. 58, 1981, 186: "Le mythe ne périt pas au Ve siècle ... mais y survit pendant un millénaire."

[4] So auch R. Seaford: Dionysos, London-New York 2006, 31f. Dass das Solonische Reformwerk nicht unmittelbar auf die Ikonographie eingewirkt, sondern zunächst in einem athenischen Ritual auf die mythische Ebene projiziert worden sei (267), war so nie meine Ansicht.

[5] Sondern auch, wie bei Hephaistos, zwangslos mit der Sympathie der mit Feuer arbeitenden Keramiker für den kulturstiftenden Titanen.

[6] Zur Abb. 233: Wenn der Satyr, wie Herakles bei den Hesperiden, gegen die Schlange ausholt, wird er die anstelle der Äpfel aufgehängten Weinkannen zerschlagen und noch mehr zur Lachfigur werden.

[7] Vgl. dazu jetzt Rezensentin, Dionysos in Classical Athens, 135-152.

[8] Zum Dionysosidol der sogenannten Lenäenstamnoi: Die runden Objekte beidseits der Maske sind wohl eher kleine Kultzimbeln als Kuchen: Rezensentin, Dionysos in Classical Athens, 127 mit Anm. 20 und 21.

[9] Zu den angeblich orphischen, in Wirklichkeit bakchischen Goldblättchen: W. Burkert: Antike Mysterien, 5. Aufl. München 2012, 27-29; S. Iles Johnson / C. Calame in: Der Neue Pauly 9, 2000, 58, s.v. Orphicae Lamellae bzw. 59-68, s.v. Orphik, Orphische Dichtung.

[10] Sehr löblich ist der kritische Blick auf den Antikenhandel in den Anmerkungen 48 und 554.

[11] Vgl. (und dazu, dass es kaum Vasenbilder ohne Bezug zu Dionysos geben kann): Rezensentin, Dionysos und Spina, in C. Bérard / C. Bron / H.P. Isler (Hgg.), Dionysos. Mythes et mystères, Vases de Spina. Mythos und Mysterien. Vasen aus Spina. Kilchberg (Zürich) 1991, 34-39.

Rezension über:

Alexander Heinemann: Der Gott des Gelages. Dionysos, Satyrn und Mänaden auf attischem Trinkgeschirr des 5. Jahrhunderts v. Chr. (= Image & Context; Vol. 15), Berlin: De Gruyter 2016, XIV + 787 S., ISBN 978-3-11-022223-4, EUR 129,95

Rezension von:
Cornelia Isler-Kerényi
Zürich
Empfohlene Zitierweise:
Cornelia Isler-Kerényi: Rezension von: Alexander Heinemann: Der Gott des Gelages. Dionysos, Satyrn und Mänaden auf attischem Trinkgeschirr des 5. Jahrhunderts v. Chr., Berlin: De Gruyter 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/10/28614.html


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