In der Alten Geschichte hat sich Geschlechterforschung mittlerweile etabliert, jedoch gilt dies noch nicht für Robert Connells interdisziplinär rezipiertes Modell der hegemonialen Männlichkeit. Diese Lücke versucht Daniel Albrecht zu füllen, indem er Livius einer neuen postmodernen Lesung unterzieht. Dazu untersucht er, inwiefern in der livianischen Erzählung intelligible Männerbilder der "großen Männer" produziert werden. Der Zugang zur Untersuchung der Männerbilder erfolgt über das von Thomas Späth entlehnte Konzept der "narrative[n] Performanz" (29), worunter die Zuweisung und Aushandlung von Normen und Bedeutungen mittels der von Livius geschilderten Interaktionen verstanden wird.
Das Modell der hegemonialen Männlichkeit ist in der Annahme begründet, dass Männer nicht nur über Frauen, sondern auch über andere Männer Macht ausüben, indem ein bestimmtes Männerbild in der Gesellschaft als hegemonial anerkannt wird, während andere als untergeordnet aber komplizitär oder gar als marginalisiert und von der Machtausübung ausgeschlossen gelten. Albrecht kombiniert die Theorie Conells mit Pierre Bourdieu, indem er den Fokus seiner Analyse auf die "Herausbildung männlicher Habitus im Wettbewerb" (33) legt.
Nach einem Kapitel zu den Prämissen der Untersuchung folgt das Kapitel "Hegemoniale Männlichkeit und res publica" (35-110). Darin betrachtet Albrecht den Wettkampf um Ressourcen und Handlungsspielräume innerhalb der senatorischen Elite, die durch "doing masculinity" symbolisches Kapital akkumuliere, um in den exklusiven und zugleich offenen "hegemonialen Kreis" zu rücken (37). Der Wettbewerb manifestiere sich nicht nur in der Konkurrenz um den cursus honorum, sondern auch in Reden vor Senat oder Volk sowie im Krieg (42). Die Ergebnisse der Wettbewerbe unter Männern seien grundsätzlich instabil und bedürften der "performativen Erneuerung" durch positive exempla oder die Beseitigung von Normüberschreitungen (63f.).
Der Ausschluss der Frauen von den "ernsten Spielen" wird anhand der Diskussion um die lex Oppia dargelegt. Es gebe keine Konkurrenz zwischen Frauenbildern, da Frauen, die immer auf den mundus muliebris beschränkt seien, grundsätzlich eine marginalisierte Position einnähmen (99). Zugleich werde aber an der lex Oppia beispielhaft gezeigt, wie und wodurch Männer Dominanz über Frauen aushandeln. In diesem Fall setze sich die "individuelle [...] und maßvolle [...] Ausübung männlicher potestas" (99) durch.
Die Rhetorik spielt auch eine Rolle im nächsten, umfangreichsten Kapitel, welches die "Bausteine römischer Männerbilder" (111-258) untersucht. Neben der Rhetorik und dem Spannungsverhältnis von Reden und Handeln werden der Krieg, die Vaterschaft und der Körper als derartige "Bausteine" analysiert. Für den hegemonialen Kreis in Rom wiederum stellt Albrecht am Beispiel des T. Quinctius Capitolinius fest, dass rhetorische Brillanz allein kaum genüge, um als Mann anerkannt zu werden. Der mündlich ausgetragene Streit auf dem Forum nach "Weiberart" (mulierum ritu, Liv. 3,68,8) müsse vielmehr durch physisch ausgetragenen Streit, durch Krieg, ergänzt werden.
Hervorzuheben ist, dass an dieser Stelle nicht nur die Männlichkeit der Feldherren, sondern auch der Soldaten untersucht wird. Anhand des Auftritts des Sp. Ligustinus, des idealen archaischen Bauernsoldaten, zeichnet Albrecht das Bild eines durch seinen vernarbten Körper als männlich geltenden Soldaten nach, der "ein Träger der res publica" sei, jedoch zugleich "von der Repräsentation ausgeschlossen" (139). Da er bereit sei, die res publica zu verteidigen und seine gesellschaftliche Position zu akzeptieren, fungiere er als "Komplize des hegemonialen Kreises" (140), ohne die Aussicht, jemals ein Teil dieses Kreises zu werden.
Weiter arbeitet Albrecht heraus, dass die virtus für untergeordnete Männer Risiko- und Opferbereitschaft bedeutet und deren Mangel als Feigheit und zugleich als Verlust an Männlichkeit gedeutet wird (146). Für den Feldherren komme es hingegen auf die ars imperandi an, wodurch das formale imperium mit Inhalt gefüllt werde (174). Während die untergeordneten Männer leicht die Kontrolle verlören, würden dem Feldherren "moderatio, prudentia, fides und constantia" zugewiesen (186). Mithin sei es für den erfolgreichen Feldherren notwendig, die disciplina militaris zu erhalten. Zwischen Feldherren und Vätern zeigt Albrecht Parallelen auf (zum Beispiel die auctoritas als Machtstrategie), weist jedoch darauf hin, dass die Vaterschaft hegemonialer Männer grundsätzlich darauf ausgerichtet sei, ihren Söhnen einen entsprechenden Habitus zu vermitteln, so dass sie schlussendlich mittels eines symbolischen Vatermordes deren Platz einnehmen können.
Im Unterabschnitt über "Römische Körper" beklagt Albrecht, dass sich ein Wettbewerb unter Körpern kaum ausmachen lasse, wenn sie denn überhaupt thematisiert würden (236). So wird vor allem die Verachtung des eigenen Körpers thematisiert, zum Beispiel in Bezug auf das fehlgeschlagene Attentat des C. Mucius Cordus und die anschließende Selbstverstümmelung. Obwohl sich mehrfach Ansatzpunkte bieten (236, 244, auch in früheren Abschnitten: 101, 187), ignoriert Albrecht römische Vorstellungen von mollitia im Sinne effeminierter männlicher Verhaltensweisen oder ethnischer Zuschreibungen sowie auch den gesamten Bereich der Sexualität.
Hier versäumt Albrecht differenziertere Männerbilder freizulegen. So enthält Livius' Schilderung der Belagerung von Veji eine besonders einprägsame Szene, in der es um die Abhärtung der Soldatenkörper geht (Liv. 5,6,4f.). Weder diese Passage noch andere Quellen außer Livius fanden Eingang in die Untersuchung, die möglicherweise gerade an dieser Stelle davon hätte profitieren können. Erstaunlich ist auch, dass Craig Williams nicht rezipiert wurde, der wesentliche Erkenntnisse zur Untersuchung römischer Männlichkeit beisteuerte. [1]
Konsequent im Sinne eines intersektionalen Ansatzes wird im letzten Kapitel "Ethnizität und Männlichkeit" (259-316) untersucht. Albrecht rückt generelle ethnische Zuschreibungen in den Hintergrund und untersucht stattdessen einzelne fremde Herrscherfiguren (Hannibal, Alexander), deren narrative Funktion Albrecht als Spiegel römischer Männlichkeiten betrachtet. Dieser Zugang überzeugt, jedoch wäre möglicherweise auch eine genauere Analyse der literarischen Topoi oder auch der Klimazonentheorie gewinnbringend gewesen.
Abschließend muss festgehalten werden, dass Livius mit einer neuen Brille gelesen und die Fokussierung auf Männlichkeiten theoretisch und methodisch fundiert und reflektiert umgesetzt wurde. Neben Connell und Bourdieu wurden an verschiedenen Stellen auch Ansätze Michel Foucaults und Judith Butlers überzeugend eingearbeitet. In der Auseinandersetzung mit dem livianischen Text wurden sinnvolle Kategorien gefunden, hier "Bausteine" genannt, die sich gewiss auch für weitere Untersuchungen zur Geschlechtergeschichte als fruchtbar erweisen können. Die Intersektionalität wurde als Konzept ernst genommen und dürfte für weitere Untersuchungen ebenfalls gewinnbringend sein. Die selbst auferlegte Beschränkung des Umfangs der Untersuchung hinsichtlich des Körpers, insbesondere die völlige Ausklammerung der Sexualität, schmälert den Nutzen dieses neuen Zugangs zu Livius nur unwesentlich.
Anmerkung:
[1] Siehe Craig Williams: Roman Homosexuality. Ideologies of Masculinity in Classical Antiquity, New York / Oxford 1999. Auch Jonathan Walters hätte der Verknüpfung der Bausteine Körper und Krieg dienen können: Jonathan Walters: Invading the Roman Body: Manliness and Impenetrability in Roman Thought, in: Judith P. Hallet / Marilyn B. Skinner (eds.): Roman Sexualities, Princeton 1997, 29-43. Catharine Edwards ist im Literaturverzeichnis aufgeführt (Catharine Edwards: The Politics of Immorality in Ancient Rome, Cambridge 1993), jedoch wurde das entsprechende Kapitel zur mollitia nicht rezipiert.
Daniel Albrecht: Hegemoniale Männlichkeit bei Titus Livius (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 23), Heidelberg: Verlag Antike 2016, 378 S., ISBN 978-3-938032-83-1, EUR 79,90
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