Es ist eine Herausforderung, eine historische Überblicksdarstellung über Amerika vor der europäischen Eroberung zu schreiben. Der amerikanische Doppelkontinent hat von seiner Besiedlung bis zum Jahr 1500 derart vielfältige kulturelle Erscheinungen hervorgebracht, dass man notwendigerweise starke Schwerpunktsetzung vornehmen, mit anderen Worten "Mut zur Lücke" beweisen muss. Antje Gunsenheimer und Ute Schüren haben diese Herausforderung angenommen und ein Überblickswerk vorgelegt, das in diesem Jahr als Band 16 der Neuen Fischer Weltgeschichte erschienen ist. Damit löst es den in die Jahre gekommenen Band 21 der Fischer Weltgeschichte ab. [1]
Im ersten Kapitel geben die Autorinnen zunächst eine Orientierung darüber, was die wissenschaftliche Erforschung der altamerikanischen Kulturen ausmacht, die in Deutschland Altamerikanistik genannt wird. [2] Als Subdisziplin der Ethnologie bzw. der Sozial- und Kulturanthropologie hebt sie sich von anderen historischen Forschungstraditionen ab. In Anlehnung an die US-amerikanische four field anthropology umfasst die Altamerikanistik die archäologische, (ethno-)historische, (ethno-)linguistische, und ethnografische Erforschung des Doppelkontinents. [3] Damit geht sie zum einen subdisziplinär über die Archäologie und Geschichtswissenschaft hinaus. Zum anderen umfasst sie ebenso die Erforschung indigener Kulturen in Auseinandersetzung mit den seit 1500 etablierten kolonialen und postkolonialen Ordnungen bis hin zur Gegenwart. Relevante Quellen für die Erforschung des vorkolonialen Amerika sind somit archäologische Zeugnisse, ethnolinguistische Untersuchungen (einschließlich epigrafischer Studien vorkolonialer Schriftquellen, die insbesondere für die Erforschung der Maya von Bedeutung sind), ethnohistorische Zeugnisse aus vorkolonialen, mehrheitlich aber kolonialzeitlichen Schrift- und Bildquellen, sowie solche Erkenntnisse, die sich - bei aller gebotenen Vorsicht - aus ethnografischen Analogien gewinnen lassen. Dabei heben sich die Autorinnen von gelegentlichen Verengungen ab, die angeben, die Altamerikanistik sei eigentlich nur für die Erforschung der Hochkulturen Mesoamerikas [4] und des Andenraums zuständig (Maya, Inka und Azteken). Im Gegenteil nimmt dieses Buch die Amerikas als Ganzes in den Blick - ohne dabei unleugbare Forschungsschwerpunkte in der Fachgeschichte zu verwischen (54).
Konsequenterweise folgt dann auch im zweiten Kapitel der für die Kulturanthropologie klassische Einstieg nach culture areas. Obgleich Kulturarealen, die im Wesentlichen naturräumlichen Gegebenheiten folgen, heute richtigerweise ein weitgehendes Erklärungspotential für kulturelle Entwicklungen abgesprochen wird, bleiben sie doch als Orientierungsmarken für die Sozial- und Kulturanthropologie der Amerikas weiterhin von Bedeutung. Die Autorinnen vermeiden dann auch jede naturdeterministische Rhetorik, sondern zeigen im Gegenteil bei der Darstellung der Zusammenhänge zwischen geografisch-klimatischen Gegebenheiten und kulturellen Phänomenen ein hohes Maß an Sensibilität.
Kapitel III behandelt die teils immer noch kontrovers diskutierten Besiedlungstheorien Amerikas. Das schwierige Thema navigieren die Autorinnen mit großem Geschick, indem sie sich eines autoritativen Erzählstils enthalten, und stattdessen immer nah am (meist archäologischen) Material auch widersprechende Deutungen zu Wort kommen lassen. Im vierten Kapitel, das weite Teile des Doppelkontinentes abdeckt, wird das Archaikum beschrieben.
Für die folgenden drei Kapitel (V-VII) haben die Autorinnen eine Einteilung gewählt, die nicht nach Epochen gliedert, sondern Kulturen und Gesellschaften nach dem Grad der soziopolitischen Organisation vergleichend darstellt. Kapitel V beschreibt daher zunächst die Entstehung komplexer Gesellschaften und berücksichtigt schwerpunktmäßig die Hügelbauergesellschaften sowie die frühen Kulturhorizonte in Mesoamerika und dem Andenraum. Kapitel VI behandelt dann komplexe Häuptlingstümer, Kleinstaaten und Regionalkulturen und enthält je ein Unterkapitel zu den Maya in Mesoamerika, den Moche im Andenraum, der Mississippi-Kultur sowie Anasaszi und Hohokam im Südosten Nordamerikas. Kapitel VII, das sich den Hegemonialstaaten und imperialen Herrschaftsformen widmet, stellt schließlich Tehutihacan, Tolteken und Azteken in Mesoamerika und Tiwanaku und Wari sowie das Inka-Reich im Andenraum vor. Diese drei Kapitel werden jeweils durch einführende Bemerkungen sowie Abschluss-Unterkapitel gerahmt, in denen die soziopolitischen Formen vergleichend behandelt werden.
Eine solche Einteilung nach soziopolitischen Organisationsformen hat freilich auch ihre Tücken. Denn eine historische Entwicklung von un- oder wenig geschichteten Gesellschaften hin zu imperialen Staaten kann in den Amerikas nur dann angenommen werden, wenn man zunehmend auf Differenzierungen verzichtet, je weiter man das historische Narrativ an 1500 heranführt. Dennoch gibt es zu Gunsenheimers und Schürens Einteilung keine rechte Alternative, will man die gewachsenen Forschungsschwerpunkte der Altamerikanistik auf die geschichteten Häuptlingstümer, Staaten und imperialen Hegemonialstaaten angemessen abbilden. Es ist dem sorgfältigen und abgewogenen Stil der Autorinnen zu verdanken, dass das Buch die notwendigen Differenzierungen sehr gut deutlich macht. Nah am Material verzichten sie auf die große historische Erzählung für die Amerikas, mit der sich die Altamerikanistik überheben müsste. Umgekehrt ist das Buch aber auch keine langweilige Materialbeschreibung, sondern findet einen gelungenen Mittelweg zwischen Material- und Quellennähe und Lesbarkeit.
Mit "Amerika vor der europäischen Eroberung" haben Gunsenheimer und Schüren zweifellos ein Standardwerk vorgelegt, das Maßstäbe setzt. Für die universitäre Ausbildung hat das Buch damit großen Wert. Aber auch der breiteren Öffentlichkeit steht hiermit ein gut lesbares, interessant geschriebenes und vor allem seriöses Überblickswerk zur Verfügung, das hoffentlich eine breite Leserschaft findet.
Anmerkungen:
[1] Laurette Séjourné: Altamerikanische Kulturen, Frankfurt am Main 1971.
[2] Von "Altamerika" zu sprechen, mag angestaubt wirken. Jedenfalls ist der Begriff aber angemessener als "prähistorisch", was dann, jedenfalls bezogen auf Amerika, mit "vorkolonial" gleichgesetzt ist; Peter R. Schmidt / Stephen A. Mrozowsi: The Death of Prehistory, Oxford 2013. Auch die indigenen Kulturen der Amerikas hatten eine Geschichte vor der europäischen Eroberung; Eric R. Wolf: Die Völker ohne Geschichte: Europa und die andere Welt seit 1400, Frankfurt am Main 1986.
[3] Die vier Felder der Anthropologie in den USA umfassen neben der cultural anthropology, (die in etwa der "Ethnologie" in der kontinentaleuropäischen Tradition entspricht) die archaeology, linguistics, und physical anthropology. Die vier Felder werden zumeist in gemeinsamen Studiengängen unterrichtet. Die Ethnohistorie wird in den USA als Teil der cultural anthropology verstanden, aber auch in den Geschichtswissenschaften betrieben.
[4] Der Begriff "Mesoamerika" ist nicht mit dem geografischen Begriff "Mittelamerika" identisch, sondern bezeichnet ein Kulturareal, das über archäologische und linguistische Gemeinsamkeiten der in diesem Gebiet in vorkolumbischer Zeit lebenden Kulturen definiert wird. Mesoamerika umfasst Teile des heutigen Mexiko, Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica.
Antje Gunsenheimer / Ute Schüren: Amerika vor der europäischen Eroberung (= Neue Fischer Weltgeschichte; Bd. 16), Frankfurt a.M.: S. Fischer 2016, 624 S., ISBN 978-3-10-010846-3, EUR 29,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.