Endlich ein neuer, ausführlicher Beitrag zur These, der moderne Antisemitismus basiere wesentlich auf dem Nationalismus: Jan Weyand untersucht in seiner Habilitationsschrift, wie sich der Antisemitismus im 19. Jahrhundert auf dem Territorium des späteren Deutschen Reiches als antimoderne Denkweise und hinsichtlich seiner Grundlage in der Idee der Nation formiert.
Historischer Ausgangspunkt der Untersuchung ist der Ende des 18. Jahrhunderts dominierende, christlich begründete Judenhass. Weyand arbeitet heraus, dass das religiöse Moment bei der Ablehnung von Juden umso mehr an Bedeutung verliert, je stärker dieser Hass im folgenden Jahrhundert erst durch die Idee der Nation, später auch durch die Staatsgründung bestimmt wird. In manchen Formen des modernen Antisemitismus verschwindet die christliche Grundlage gänzlich, in anderen wird sie schlicht als kulturelles Element in das nationale Selbstverständnis aufgenommen. Die religiöse und die nationale Begründung des Ausschlusses der Juden aus dem "Volk" können also Hand in Hand gehen und müssen sich nicht widersprechen. Damit liegt Material gegen die These etwa von Ulrich Wyrwa [1] vor, der mit Verweis auf den weiterhin existierenden religiösen Judenhass bestreitet, dass moderner Antisemitismus allgemein als nationaler Antisemitismus zu begreifen ist.
Antisemitismus, das zeigt Weyand überzeugend anhand von Zitaten zeitgenössischer, antisemitischer Autoren auf, ist sowohl ein Produkt der Moderne als auch zugleich antimodern - und deswegen so anschlussfähig an andere antimoderne Denkweisen der bürgerlichen Gesellschaft. Dabei wenden sich antimoderne Kritiker nicht gänzlich gegen die bestehende Gesellschaftsform. Sie teilen etwa die moderne Idee der Nation und das (angeblich) gemeinsame Interesse all ihrer Mitglieder. Was sie hingegen ablehnen, ist die gesellschaftliche Freiheit aller Kollektivmitglieder, die eigenen Interessen zu verfolgen, allem voran als Konkurrenzsubjekte in der ökonomischen Sphäre. Dieser Ablehnung liegt der in kapitalistisch verfassten Nationalstaaten notwendige Konflikt zwischen Selbstverwirklichungsversprechen und Gemeinschaftsansprüchen an die Individuen zu Grunde. Antimoderne Kräfte schlagen sich in diesem Konflikt ganz auf die Seite der Gemeinschaft und lehnen das Gesellschaftliche als vermeintlich gemeinschaftsschädigend ab. Antisemiten unter den Antimodernen gehen noch einen Schritt weiter und wollen diesen inhärent modernen Konflikt beenden, indem sie das Eigeninteresse bzw. das Gesellschaftliche externalisieren und dies "den Juden" zuschreiben. (Hier lässt sich allerdings einwenden, dass die Vorstellung von der eigenen Gemeinschaft im Antisemitismus insofern inkonsistent ist, als der Anspruch an ihre Mitglieder in der Regel nicht die völlige Aufgabe des Eigeninteresses beinhaltet, also das Gesellschaftliche nicht in Gänze ausgeschlossen werden soll.) Mit dieser Analyse wird auch ein für die Antisemitismustheorie relevantes Nationenverständnis wie etwa bei Samuel Salzborn [2] kritisiert, der qualitativ zwischen ethnischem und republikanischem Nationalismus so stark unterscheidet, dass der gemeinsame und entscheidende Kern - der Anspruch an alle Angehörigen auf einen Willen zur Gemeinschaft - verloren geht.
Weyand verwehrt sich ausdrücklich gegen zweierlei Fehlschlüsse in Bezug auf die gesellschaftliche Rolle des antisemitischen Denkens: Er unterstreicht, dass Antisemitismus nur eine mögliche Form ist, die dauerhafte Spannung zwischen Gesellschaft - im Sinne des Eigeninteresses der Individuen - auf der einen und dem unterstellten Kollektivinteresse der Gemeinschaft auf der anderen Seite in Richtung Gemeinschaft auflösen zu wollen. Gleichzeitig betont er, dass Antisemitismus keine beliebige Ideologie ist, sondern zur bürgerlichen Gesellschaft dazugehört, gerade weil diese Denkweise eine Antwort auf das grundmoderne Phänomen Gemeinschaft/Gesellschaft ist.
Der Antisemitismus erklärt Juden zum Feind, weil sie die Gemeinschaft zerstören würden. Die Feindschaftserklärung an Juden ist zugespitzter als jene gegen andere nationale Kollektive, denn Juden gelten nicht einfach als eine von vielen anderen Gruppen, als irgendein anderes "Volk", sondern als Bedrohung der eigenen wie auch aller anderen Nationen. Nicht nur hier knüpft Jan Weyand an die Ergebnisse von Klaus Holz an, der 2001 in "Nationaler Antisemitismus" [3] erstmals ausführlich herausgearbeitet hat, dass moderner Antisemitismus in seinen verschiedenen Varianten auf der Annahme eines nationalen Kollektivs beruht und Juden als Feind aller Nationen verstanden werden. Daran anschließend belegt Weyand, dass und wie stark das Fremdbild "des Juden" durch das Homogenitätsideal bzw. den Anspruch geprägt ist, den Antisemiten an ihr eigenes nationales Kollektiv stellen. Das Fremdbild spiegelt dieses idealisierte Eigenbild, was in allen zentralen Zuschreibungen des Antisemitismus erkennbar wird (etwa "schmarotzen an den Früchten der Gemeinschaft" vs. "ehrliche Arbeit"). Während diese Refokussierung - weg vom Fremdbild, hin zum Eigenbild - aus der neueren Rassismusforschung bereits bekannt ist, hat sie in die Antisemitismusforschung noch wenig Eingang gefunden.
Dem historisch-soziologischen Vorgehen mag geschuldet sein, dass Weyand lediglich beschreibt, wie Antisemiten sich auf Begriffe wie Nation und Volk beziehen und welche Notwendigkeiten eine Gesellschaftsform nach sich zieht, die als nationale Gemeinschaft verfasst ist. Dabei benennt er auch, dass die Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft auf diese verpflichtet sind. Die Beschreibung bleibt aber immer dann unbefriedigend, wenn formuliert werden soll, wie und warum sich die Nation wirklich gebildet hat. Warum bedarf es überhaupt einer Verpflichtung der Mitglieder aufeinander und wer ist der Akteur dieser Verpflichtung? Sind es schlicht die Kollektivmitglieder selbst? Warum aber sollten sich die Kollektivmitglieder verpflichten, wenn sie das Gemeinschaftsinteresse ohnehin teilen? Schließlich: Welche Rolle spielt der Staat bei Bildung und Aufrechterhaltung einer Nation als Staatsvolk? Aufgrund einer weitgehenden Abstraktion von den Inhalten nationaler Kollektive und damit von der Verpflichtung auf Gemeinschaft bleibt die Analyse in diesen Hinsichten hinter dem eigenen Anspruch zurück.
Schließlich beschreibt Weyand antisemitische Urteile als "antisemitisches Wissen". Statt des "Wissens"begriffs würde sich hier die Kategorie "Ideologie" der kritischen Tradition besser eignen. Denn es lässt sich leicht zeigen, dass der Antisemitismus keine treffende Analyse der modernen Gesellschaft ist. Nennt man allerdings auch eine falsche antisemitische Sicht auf die Dinge "Wissen", wird jegliches wirkliches Wissen zur beliebigen Meinung degradiert: Wäre Antisemitismus Wissen, gäbe es keinen Maßstab mehr, ob dieses Wissen korrekt ist oder nicht.
Dennoch und obwohl am Ende des Buches das identitätsstiftende Moment am Antisemitismus betont und damit die Möglichkeit der Aufklärung von Antisemiten stark angezweifelt wird, leistet Jan Weyand mit seiner Arbeit einen sehr empfehlenswerten Beitrag zur Aufklärung über antisemitische Ideologie.
Anmerkungen:
[1] Ulrich Wyrwa: Rezension zu: Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, in: H-Soz-Kult, 19.11.2003. www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-2041
[2] Samuel Salzborn: Antisemitismus und Nation. Zur historischen Genese der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Austrian Journal of Political Science Bd. 39, Nr. 4 (2010), 393-407, hier: 404. http://salzborn.de/txt/oezp2010.pdf
[3] Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.
Jan Weyand: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen: Wallstein 2016, 368 S., ISBN 978-3-8353-1844-1, EUR 39,90
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