Eine Familienbiografie versucht das in postmodernen Zeiten der Singlehaushalte Unmögliche: Das Erzählen der Geschichte eines verwandtschaftlich begründeten Personenverbands, dessen durch Geburt, Einheirat, Adoption oder Patronage hergestellte überindividuelle Gemeinschaften hoffnungslos veraltete Kategorien von Vergesellschaftung sind, die lange vor dem emanzipatorischen Siegeszug über alte patrilineare Engführungen bereits der strukturalistischen Kritik am überkommenen Heldenkult zum Opfer gefallen waren. Der Blick in die Auslagen des Buch- und Zeitschriftenhandels zeigt aber auch etwas anderes: Biografie und Familie boomen; auch Patchwork-Familien und serielle Monogamie mit und ohne Trauschein scheinen alte Ideale perpetuieren zu wollen! Nun mögen allgemeiner Publikumsgeschmack und auflagenträchtiges human interest den Reflexionshöhen gesellschaftswissenschaftlicher Theoriebildung nicht standhalten, sie verdeutlichen aber, dass das Biografische eine Leserinteresse garantierende Darstellungsform ist. In der Geschichtswissenschaft hat die Biografie nach Flauten in den 1960er- und 1970er-Jahren quasi dauerhaft Konjunktur, wobei der Dekonstruktionsmodus und die kritische Distanz zwischen Golo Manns Wallenstein, Lothar Galls Bismarck und - um vereinfachend bei deutschsprachigen Beispielen zu bleiben - Barbara Stollberg-Rilingers Maria Theresia höchst unterschiedlich sind. Am Ende eint Autoren und Leser das Faszinosum des Kontingenten im eigentlich per se Inkontingenten, d.h. die aus den Quellen hergestellte Biografie, die Konstruktion von Grenzen und Möglichkeiten historischer Persönlichkeiten in den Kontexten ihrer Lebenswirklichkeiten und hier: in ihren familiären Bindungen und Affiliationen.
Diese Bindungen sind oft die Ursache dafür, dass für den Biografen Heuristik und Hermeneutik dicht beieinander liegen, denn nicht selten hinterlassen Familien gemeinsame Quellenbestände. Simone Derix hat solche eingesehen, sie ist aber auch in mehr als 30 Archiven in behördlichen und sonstigen öffentlichen Überlieferungen fündig geworden. Diese nicht-privaten Überlieferungen entstanden, weil die Thyssens außer den gemeinsamen Traditionen und Genealogien auch gemeinsame Bankkonten teilten, und für diese interessierten sich stets auch staatliche Stellen, die eine überreiche Aktenproduktion zu der Unternehmer- und Unternehmenserbenfamilie hinterlassen haben. Neben politischen Sachverhalten, besonders vor, während und unmittelbar nach dem "Dritten Reich", sind die behördlichen Themen oft fiskalischer Natur. Man hätte es sich denken können: Das wichtigste Bindemittel war bei den Thyssens das Geld. Für diesen Befund hätte man keine 544-seitige Studie verfassen müssen, er ist so allgemein bekannt und legendenbehaftet, wie August Thyssens unternehmerisches Genie, Fritz Thyssens ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus und Hans Heinrich Thyssen-Bornemiszas Kunstsammlung.
Worin liegt dann der Gewinn der akribischen Studie über eine der prominentesten deutschen Unternehmerfamilien? Zunächst darin, dass erstmals valide Zahlen, Fakten und vor allem für eine Jahrhundertspanne tragfähige Einblicke in die Lebenswelten der Thyssens vorgelegt werden. Die Autorin betont zur Recht, dies sei "bislang nur bruchstückhaft und teils fehlerhaft" (52) der Fall gewesen. Daraus ergibt sich dann auch direkt die grundsätzliche Einsicht, dass es sich beileibe nicht nur um eine deutsche Familie handelt - so gern die Chiffre "Thyssen" auch in die liebgewonnene Meistererzählung von den deutschen Industrieleistungen zwischen Hochindustrialisierung und den Erhardschen Wirtschaftswunderjahren eingeflochten wird. Weder die Unternehmen, noch das Vermögen der Thyssens kannten Landesgrenzen, und das galt auch für die Angehörigen des Clans selbst. Hierin liegt ein Faszinosum der Studie, die Archivorte lassen es schon vermuten (vgl. eindrucksvoll 47 und 493-496), und aus der Klatschpresse hatte man mindestens Ungarn, die Schweiz und Spanien als zeitweise Refugien der Familie im Hinterkopf: Die Thyssens waren eine grenzüberschreitende Gruppe von Vermögenden; in der Einleitung verkneift sich die Autorin daher nicht die wunderbare Alliteration "transnationale Thyssens" (29). Simone Derix kann zeigen, um zum 4. Großkapitel (323-412) vorzuspringen, wie sehr die Internationalisierung des Geldes mit der Internationalisierung seiner Besitzer verflochten war. Heiraten boten dazu volatile Anlässe, Emigrationen erzwungene, mit polyglotter Selbstverständlichkeit wurden Landeswechsel gemeistert. Die monetäre Grundlage konnte nur durch die auch in schwierigen Zeiten aufrecht erhaltene Netzwerkpflege erhalten bleiben. Hier verwertet Derix geradezu sprechende Akten, die im Rahmen von Scheidungsprozessen angelegt wurden und die Genese der gesellschaftlichen Einbindungen des einen Partners in das Netzwerk des anderen nachzeichneten und gegeneinander aufrechneten.
Das generationenverbindende standesgemäße Leben, treffend und mit eher zu wenigen als zu vielen Details in Kapitel I (51-106) beschrieben, galt als conditio sine qua non, ihm wurden andere Wünschbarkeiten untergeordnet. Individuelle und persönliche Neigungen waren bei den großbürgerlichen und adligen Idealen aber trotzdem lebbar, anders als im verknöcherten Buddenbrook-Protestantismus wird bei den katholischen Thyssens geschieden und wiederverheiratet, dass unbedarften Leseerwartungen Hören und Sehen vergeht. Eine etwas bittere Pointe ist, dass vor allem hier, an den ehelichen Konflikt- und Endpunkten, die sonst eher schlecht greifbaren Frauen sichtbar werden, da ihr Handeln nun selbstbewusst aktenkundig wurde; in Abstufung gilt dies auch für die immer mitzudenkende Sphäre des Dienstpersonals, das durch Aussagen vor Gericht mit Namen greifbar wird.
Im Kapitel II (107-232) wird das Leben mit Vermögen an herrlichen Einzelbeispielen geschildert, ganze Itinerare dessen, was später Jetset-Leben genannt wird, verdeutlichen die Mobilität eines zwischen Geschäfts- und Erholungsterminen oszillierenden Lebensstils, der im Ergebnis wahrscheinlich nicht sonderlich erholsam war. Vermögensgeschichte wird hier als gelebte Reichtumsgeschichte greifbar und nachvollziehbar. Habituelle Wechselspiele aus "Vermögen zeigen" und "Vermögen verstecken" führen vor Augen, dass die Feudalisierung des Bürgertums auch manifeste Kehrseiten hatte. Das an das Innerste der Familie gehende Kapitel III (233-322) beschäftigt sich sogar ausschließlich mit dem großen Vermögen offenbar inhärenten Konfliktpotential und dessen Entladungen vor und nach Erbgängen. In einem letzten Kapitel wird ein Ausblick in die Nachkriegszeit präsentiert, der bis gegen Ende der 1960er-Jahre reicht. [1]
Ein prallvolles Buch, dessen Autorin souverän aus unternehmens- und wirtschaftsgeschichtlichen Grundparametern heraus auf andere Felder wie die Bürgertumsgeschichte tritt. Diese Weitung des Blicks gelingt durch die im Titel genannte Dienstbarmachung eines breiten und doch sehr differenzierten Vermögensbegriffs (klar nachvollziehbar, auch in seiner Abgrenzung zu analytisch anderen Verwendungen in der neueren Reichtums- und Vermögensforschung, 14-20). Jenseits von Fabriken, Schlössern, Aktiendepots und Diamantketten (herrlich bei Amélie Thyssen, 403) wendet Simone Derix ihn konsequent in Anlehnung an Bourdieus Denkfigur des aus ökonomischen, kulturellen und sozialen Komponenten akkumulierten symbolischen Kapitals an. Sie bringt eine Fülle von Beispielen, in denen einzelne Thyssens auch ohne persönliche Liquidität im engeren Sinne überall Kredit hatten, bei großstädtischen Pferderennen, beim Immobilienerwerb oder dem konsumtiven Leben in Hotels und Chalets. Ihr symbolisches Kapital lag in der Zugehörigkeit zum vermögenden Familienverband der Thyssens.
Einzige Monita: Man möchte diese schwerreichen Industriellen bzw. Industrieerben auf mehr als den 10 Abbildungen des Bandes sehen, hier meldet sich auch beim wissenschaftlichen Leser das human interest. Und auch der Dimension des Scheiterns an und in der Familie hätte, vielleicht ähnlich zu den anderen kompakten Oberthemen, ein eigener Abschnitt gewidmet werden können. Darin hätten die nicht verschwiegenen, insgesamt aber doch recht verstreuten Aspekte von Versagen, Zorn, Krankheit, Exzess und die auf einem ex-propriis-Leben basierte Schrulligkeit gebündelt werden können. Und zwar nicht nur aus Schaulust und human interest, sondern weil im Scheitern an und in der Familie Thyssen auch ein Unvermögen im Umgang mit Vermögen steckt.
Anmerkung:
[1] Dort, wo der Quellenzugang möglich ist, gehen einige der sechs weiteren Bände, die in der von Hans-Günter Hockerts, Günther Schulz und Margit Szöllösi-Janze herausgegebenen Reihe "Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert" erschienen sind, zeitlich bis in die 1970er-Jahre.
Simone Derix: Die Thyssens. Familie und Vermögen (= Familie - Unternehmen - Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert; Bd. 4), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 544 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77974-8, EUR 49,90
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