In seiner Dissertationsschrift möchte Ludger Schröer rekonstruieren, wie Referendare Geschichtsunterricht reflektieren, planen, beurteilen (131). Dabei sucht er mittels eines triangulativen Settings aus Interviews und Planungsunterlagen der Referendare nach alltagstheoretischen, impliziten Überzeugungen zu historischem Lernen und gelingendem Geschichtsunterricht und kontrastiert anschließend diese rekonstruierten subjektiven didaktischen Theorien. Den individuellen Konstruktionsprozess dieser Überzeugungen rekonstruiert er jedoch nicht.
Schröer klärt zuerst Schlüsselbegriffe (ab 20: "individuelle Theorie", "Professionswissen", "subjektive Konzepte", "individuelle didaktische Theorien"), um dann zentrale Parameter der unterrichtsmethodischen Vorstellungen, Ziele und Selbstkonzepte herauszuarbeiten und diese mit aktuellen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen Herausforderungen zu verknüpfen. Er zitiert zum Beispiel Reusser/Pauli/Ellmer, es fehle bis heute eine akzeptierte Typologie der mentalen und motivationalen Grundlage des Lehrerhandelns und Lehrerseins, [...] ein Konsens darüber, was mit "berufsbezogenen Überzeugungen" gemeint sei (22). [1] Innerhalb der umfangreichen Darstellung des Forschungsstandes wird nicht deutlich, was der Autor sich selbst als Forschungsziel gesetzt hat: Die Erstellung einer Typologie berufsbezogener Überzeugungen? Die Intervention mit dem Ziel des Conceptual Change im Sinne von Ausbildungsqualität, also die Darlegung einer Wirkung von Beliefs auf die Unterrichtsqualität? Die Rekonstruktion einer Philosophie des Faches, die auch Lehrerhandeln und -haltung prägen kann? Will er aus den Daten diese Typologie erstellen oder will er den Prozess der Bildung einer subjektiven Theorie verstehen? Problematisch erscheint auch der Anspruch, das Forschungsprojekt könne über die Bewusstmachung des persönlichen Professionalisierungsprozesses Konzeptwechsel der Probanden begünstigen (41). Das ist ein Widerspruch zu dem Ziel qualitativer Forschung, die Sinnkonstruktionen hinter den subjektiven Theorien verstehen zu wollen. Schröer vermischt hier Ziele der Referendarsausbildung am Lehrerseminar mit dem, was (qualitative) Forschung leisten kann.
Schröer kombiniert unterschiedlichste Emanationen der subjektiven Theorien: Einzelinterviews am Anfang der Erhebung mit Lehramtsanwärtern zu Beginn ihrer schulpraktischen Ausbildung, mit Referendaren, die ihr Examen bereits ablegten und am Ende ihrer Ausbildung stehen, zielgerichtete Fragen, Produkte und Lernsteuerung in schriftlichen Planungsunterlagen, offene Beurteilungen und Stellungnahmen zu videographierten Szenen einer Geschichtsstunde. Er möchte durch diese Triangulation das Forschungsinteresse operationalisieren, den Gegenstand im Forschungsverfahren tiefer ausleuchten und narrative Daten sachbezogen kategorisieren: Chronologische Entfaltungen im lauten Denken, Interviewtexte aus Einzelinterviews, schriftliche Planungsunterlagen und Schreibformate (132). Er zieht also zu den Interviewauswertungen im Sinne einer triangulativen Methodenpluralität das gesamte Repertoire der Unterrichtsplanung hinzu (131-163). Dieses Vorgehen ist aus fünf Gründen zu kritisieren. Erstens versteht er in seinem ausufernden Forschungsdesign Triangulation als Form der Operationalisierung subjektiver Konzepte von Geschichtslernen. Das entspringt einer quantifizierenden Denkhaltung. Eine Triangulation kann die Rekonstruktion der subjektiven Sinnkonstruktionen nicht operationalisieren. Triangulation prüft, ob verschiedene Perspektiven auf den Forschungsgegenstand ähnliche Tendenzen einer Sinnkonstruktion zu Tage fördern. Zweitens bleibt unklar, in welchem Verhältnis die Ergebnisse der Auswertung verschiedenen Materials zueinanderstehen. Prüft das eine Ergebnis das andere oder tragen beide zu einer Theoriebildung bei? Schröer legt nicht dar, wie die Beziehung dieser Datensätze untereinander auf die Rekonstruktion der individuellen didaktischen Theorien wirkt. Drittens ist die Systematisierung illusorisch, weil sie eine vollständige Erfassung der subjektiven Konzepte suggeriert. Viertens besteht das Problem, inwiefern die ermittelten inhaltlichen Bestandteile subjektiver Theorien (Haltungen, Einstellungen, Präferenzen) wirklich existieren oder lediglich Ausdruck von Strategien einer Selbstbildkonstruktion der Probandinnen und Probanden sind. Für sein wesentliches Ziel, einen Zugang zu subjektiven didaktischen Theorien zu finden (21) (Deutungsmuster, kognitive Schemata, subjektive Relevanzsetzungen, Wissensbestände, Skripte), verengt dieses Design die Akteurssicht zu stark auf inhaltliche Positionen. Und fünftens erscheint es schwierig, dass Schröer den Bezug seiner Forschung zur Diskussion um die Qualität von Geschichtsunterricht im Blick behalten will. Denn rekonstruktive Forschung will die Prozesse, Mechanismen und Abläufe der Bildung subjektiver Theorien verstehen, nicht bewerten.
In seiner Auswertung kodiert Schröer die Konzepte der Probanden in den Eingangsinterviews komparativ (ab 179) (Gegenwartsbezug, Hinterfragen, politische Mündigkeit, Dekonstruktion von Geschichtsdeutungen gegen Gegenwartsbezug, Parallelen ziehen zu der Geschichte Europas, Kontroversen, Positionen vermitteln), kategorisiert Aufgabenstellungen (241) (Lernbereichsebene kognitiv-fachwissenschaftlich, strategisch-methodisch; Lösungsstrategien individualisiert, kommunikativ, sozial) und ordnet das Rollenselbstverständnis aus den Abschlussinterviews (ab 271) (fachdidaktische Qualitätsebene: Handhabung von Richtlinien, lernzielorientierte Gesprächsführung, Ergebnisorientierung der Stundenplanung; fachübergreifende Qualitätsbereiche: Unterrichtsstrategien, -steuerung, rigide Lernsteuerung). Damit sortiert er jedoch nur die Unterrichtschoreographie der Beliefs. Er dringt nicht auf die Ebene einer Philosophie über das Lernen im Fach vor. Die Frage ist also, ob Schröer seinem Untersuchungsgegenstand gerecht wird.
Bei der "personenbezogenen Typisierung" spannt er den Horizont der subjektiven Theorien zwischen "Geschichtsvermittlung in propädeutischer Wissenschaftsorientierung" und "Moderator in diskursiver Geschichtsaneignung" auf (339). Bei dieser Klassifikation ordnet er dem ersten Typus, zu dem er Problemorientierung zählt, eine geringe und dem zweiten eine hohe pädagogische Orientierung zu; der Grund dafür bleibt aber unklar. Manchmal existiert keine Trennlinie zwischen pädagogischen Ansichten am Lehrerseminar und der Geschichtsdidaktik als Wissenschaft. Der Widerspruch, die rekonstruktiv gewonnenen Erkenntnisse über subjektive Theorien der Lehrer in normativ erscheinende Klassifikationen einzuordnen, die nicht vollständig aus den Daten gewonnen werden, zieht sich durch die gesamte Auswertung.
Am Ende analysiert Schröer Perspektiven für einen Konzeptwechsel der befragten Lehrpersonen (ab 349, hier 355). Qualitative Forschung will aber die innere Logik der Sinnhorizonte ihrer Probanden in einem bestimmten Lebens- oder Arbeitsbereich verstehen; es geht ihr nicht um Optimierung oder Abgleiche mit Normativen.
In seiner Dissertation ermittelt Schröer Beliefs der Referendare über Geschichtsunterricht, historisches Lernen und Lehren. Den Forschungsgegenstand präzisiert er dabei nicht deutlich genug; die Entscheidung für ein leitendes qualitatives Design verschwimmt durch die zu breit angelegte Triangulation. Die Rekonstruktion individueller Theorien und das Einsortieren in normativierende Raster, die auch die aktuelle Diskussion um Unterrichtsqualität abbilden sollen, bleiben nebeneinander stehen. Insgesamt liegt hier eine Arbeit vor, die sehr interessante Einblicke in die subjektiven Theorien von Lehramtsanwärtern gibt, die aber das Individuelle in der Theoriekonstruktion methodisch nicht erfasst.
Anmerkung:
[1] Kurt Reusser / Christine Pauli / Anneliese Elmer: Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern, in: Ewald Terhart / Hedda Bennewirt / Martin Rothland (Hgg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf, Münster 2011, 478.
Ludger Schröer: Individuelle didaktische Theorien und Professionswissen. Subjektive Konzepte gelingenden Geschichtsunterrichts während der schulpraktischen Ausbildung (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 14), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015, 452 S., ISBN 978-3-643-13150-8, EUR 49,90
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