"Helmut Meyer hat eine umfassende Einführung in den Geschichtsunterricht vorgelegt. Der Autor beschreibt den theoretischen Ort des Geschichtsunterrichts als 'Brückendisziplin' zwischen Pädagogik und Geschichtswissenschaft, um anschließend auf dessen Ziele und Mittel einzugehen. Dabei stützt er sich auf die Lernzieltaxonomie von Bloom und erläutert diese praxisnah an relevanten Beispielen einer an der europäischen Geschichte ausgerichteten chronologischen Narration. Hier liegt eine nützliche Orientierung für jede Referendarin und jeden Referendar des Faches Geschichte vor." So hätte ich meine Rezension begonnen, wenn ich sie im Jahr 1985 geschrieben hätte. Ich wäre als Referendar damals sehr froh gewesen, ein derartiges Werk in den Händen zu halten, in dem einigermaßen zielsicher und praxisbezogen Fragen zu Themenbestimmung (Meyer nennt das "Stoffstrukturierung"), Planung, Quellenauswahl und allerlei Arbeits- und Sozialformen beantwortet worden wären. Aber was fängt man gut 30 Jahre später mit so einem Buch an? Wie soll man es vor dem Hintergrund einer wachsenden forschungs- und theoriebasierten geschichtsdidaktischen Diskussion rezensieren, ohne den handwerklichen Erfahrungsschatz des Autors zu diskreditieren?
Zweifellos liegen dem Werk umfangreiche Erfahrungen des Autors als Geschichtslehrer und Ausbilder an Schule und Universität zugrunde. Es ist in der Gewissheit geschrieben, genau zu wissen, wie Geschichtsunterricht funktioniert. Der Autor kennt allerlei Tricks und Kniffe für schwierige Unterrichtspassagen und zeigt an etlichen Stellen eine - durchaus berechtigte - Skepsis gegenüber den normativen Lernerwartungen in der geschichtsdidaktischen Literatur (103). Das kommt aber alles nicht leichtfüßig und mit einer Portion Selbstironie daher, sondern die Arbeit ist in einem selbstgerechten Duktus geschrieben, der unter Ausblendung von eigener Fehlbarkeit und zentraler Forschungsdiskussionen der Didaktik der Geschichte behauptet, früher, als Geschichtsunterricht noch unter die Zuständigkeit der Allgemeinen Didaktik fiel, sei alles besser gewesen. Und um dieses Früher rankt sich das gesamte Konzept seiner Monographie.
Auf den Seiten 99 bis 105 befindet sich denn auch das Herzstück des Buches mit dem Titel "Von den Lernzielen über die Kompetenzen zu den Lernzielen?", in dem der Autor die Kompetenzorientierung zerpflückt. Ich stehe nicht auf dem Standpunkt, dass Kompetenzkonzepte nicht kritisiert werden müssten. Ich teile auch die Auffassung des Autors, dass sich die Geschichtsdidaktik mit der Konzeptualisierung von mehreren Kompetenzmodellen keinen Gefallen getan hat. Aber die Art und Weise, wie in diesem Abschnitt argumentiert wird, ist unwissenschaftlich und polemisch. Denn Meyer versucht nicht mit Argumenten, sondern mit rhetorischen Tricks die Kompetenzen zu diskreditieren. Dazu bedient er sich des Mittels der Hyperbel. Auf Seite 100 nennt er in "alphabetischer Reihenfolge" auf etwa einer halben Druckseite zahlreiche Kompetenzen, die in nicht näher spezifizierten Publikationen aufgeführt werden. Das soll vielleicht witzig sein. Ist es aber nicht, denn die Übertreibung wird übertrieben und ist nur eine Kopie des Gags von Hans-Jürgen Pandel, der ihn schon 2005 in seinem PISA-Buch verwendet hat. [1] Der Autor will mit diesem rhetorischen Trick nachweisen, dass die Kompetenzdiskussion mehr oder weniger überflüssig war und man gleich hätte bei den Lernzielen bleiben können. Denn er ist der Ansicht, dass die Kompetenzorientierung die Inhalte des Geschichtsunterrichts beseitigt hätte und deshalb zum Untergang des Geschichtsunterrichts beitragen würde. Das ist ein weit verbreitetes Lamento gerade von gymnasialen Geschichtslehrern, das aber durch ständige Wiederholung nicht besser wird. [2] Hier muss man einfach sagen, dass der Autor nicht verstanden hat, dass Inhalte etwas ganz Anderes sind als Kompetenzen. Hätte er es registriert, hätte er zum Beispiel feststellen können, dass Kompetenzen eine wesentlich zielgenauere Begrifflichkeit zur Beschreibung dessen, was Schülerinnen und Schüler beim Umgang mit Geschichte können sollen, liefern. Das hätte er zum Beispiel in einem Aufsatz von Ulrich Mayer nachlesen können. [3] Helmut Meyer zitiert die geschichtsdidaktische Literatur aber nur selektiv und verwendet nur solche Belegstellen, die sein Ziel, die Lernzielorientierung zu re-etablieren, unterstützen.
Aber gut, folgen wir Meyer einmal bei seinem Versuch der Re-etablierung der Lernziele. Auch hier muss man feststellen, dass sein Herz an der ungebrochenen Gültigkeit des chronologischen europäischen Narrativs in politikgeschichtlicher Perspektive hängt. Deutlich wird das auf den Seiten 80 bis 82, wo er in Tabellenform unverzichtbare Lerninhalte für Schülerinnen und Schüler zusammenstellt. Seine "Kategorien als Grundlagen des historischen Denkens" enthalten solche Klassiker wie "Fortschritt", "Kontinuität", "Struktur", "Quelle", "Ursache" und "Wirkung", aber zum Beispiel nicht "Zukunft", "Zufall", "Darstellung", "Erzählung", "Erklären" oder "Kontingenz". Hierin zeigt sich, dass die Gedankenwelt des Autors fest in der Geschichtswissenschaft der 1980er Jahre und in der "europäischen Wissensordnung als hegemonialer Struktur" [4] verhaftet ist. Auch das "historische Grundvokabular" in einer weiteren Tabelle weist in diese Richtung. Dort gibt es keinen einzigen Begriff, der über den Raum der europäischen Geschichte hinausweist, es sei denn, er steht im Zusammenhang mit diesem, wie "Inkareich" oder "Azteken". Die Stellen, an denen das europäische Narrativ als verbindlicher Lerninhalt vorgeführt wird, sind gar nicht alle aufzuzählen. Solche, an denen darüber nachgedacht wird, ob es auch andere Geschichten oder Periodisierungen von Geschichte gibt, allerdings schon: es gibt sie nicht.
Auf Seite 102 stellt er die rhetorische Frage: "Ist auch das 'Wissen', das Verfügen über grundlegende Begriffe, die Kenntnis zentraler Ereignisse, der Besitz eines 'chronologischen Gerüsts' eine Kompetenz?" Seine Antwort, die fälschlicherweise Kompetenzorientierung und Konstruktivismus in eins setzt: "Die Frage stellt sich für Konstruktivisten nicht, da es für sie keine intersubjektiv überprüfbaren Fakten gibt und jeder sein eigenes Wissen konstruiert." An solchen Stellen wird deutlich, gegen welche Feindbilder der Autor ankämpft und mit welcher Methode. Ihm kommt es gar nicht auf Differenzierungen an, sondern darauf, ungeliebte Denkrichtungen polemisch niederzuwalzen.
Was soll man dazu sagen? Die Auseinandersetzung, in der Meyer die Wissenschaftlichkeit der Geschichtsdidaktik herabsetzt und seine eigene erfahrungsbasierte Ausbildertätigkeit zum allein gültigen Maßstab erhebt, erinnert stark an den Kampf der nicht-akademisch ausgebildeten Bader und Chirurgen gegen die universitär tätigen Physici auf dem Feld der Medizin im 18. und 19. Jahrhundert. Am Ende hatten die "Praktiker" verloren. Wer auf dem Feld der Geschichtslehrerausbildung den Kürzeren ziehen wird, ist noch nicht entschieden.
Anmerkungen:
[1] Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2005, 24.
[2] Damit hat sich bereits mustergültig Ulrich Mayer auseinandergesetzt: Keine Angst vor Kompetenzen. Kompetenzorientierung. Eine typologische, historische und systematische Einordnung, in: geschichte für heute 7 (2014) H. 3, 6-19.
[3] Ebenda.
[4] Bernd Grewe: Geschichtsdidaktik postkolonial. Eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), 5-30, hier 17.
Helmut Meyer: Geschichtsunterricht. Eine praxisnahe Einführung, Zürich: episteme.ch 2014, 254 S., ISBN 978-3-905780-05-5, CHF 48,00
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