Dass die Linke, allein weil ihr Selbstverständnis das Gegenteil nahelegt, immun gegen Judenhass sei, ist ein Trugschluss, der nunmehr seit einigen Jahrzehnten von der deutschen Antisemitismusforschung erkannt und benannt worden ist. Aus der unter anderem von jüdischen Linken wie Henryk M. Broder und Dan Diner angestoßenen bewegungsinternen Debatte erwuchs spätestens in den 1990er Jahren ein akademischer Forschungszweig, der sich der linken Formen antisemitischer Ressentiments, vor allem des israelbezogenen Antisemitismus, annahm. Während die deutsche Forschung sich dabei naturgemäß in erster Linie auf den hiesigen Kontext konzentrierte, wurden analoge Debatten in anderen Ländern vornehmlich zunächst weiterhin vor allem außerakademisch geführt. Gerade in den USA, wo das Thema vor allem von konservativen Protagonisten besetzt wird, schien innerhalb eines sich mehrheitlich als "progressiv" verstehenden universitären Milieus kein Platz für Forschung, die sich mit der Frage beschäftigte, unter welchen Bedingungen der an amerikanischen Campussen ubiquitäre Antizionismus in offenen Judenhass umzuschlagen droht.
Wie komplex sich die Konstellation in Amerika tatsächlich gestaltet, hat nun Sina Arnold in ihrer in der Hamburger Edition erschienen Dissertation aufgezeigt. Arnold geht dort den Fragen nach, ob sich innerhalb der amerikanischen Linken antisemitische Argumentationsmuster finden lassen, in welche Kontexte diese eingebettet sind und welche "Anschlussdiskurse" sich auf deren Grundlage ergeben, um über das Thema Antisemitismus zu reden. Da es sich bei Amerika im Unterschied zu Deutschland um ein Land handle, in dem es zu keiner Zeit einen staatlichen Antisemitismus gegeben habe, sekundärer Antisemitismus keine Rolle spiele, sich die Mehrheit zu Israel bekenne und Jüdinnen und Juden gesellschaftlich anerkannt seien, seien die "Ermöglichkeitsbedingungen von Antisemitismusdiskursen" (16) gänzlich andere als in Deutschland. Neben jenem nationalen Kontext spielen zudem die innerlinken theoretischen Debatten eine Rolle, die den "Frame" auf das Thema Antisemitismus bestimmen würden. Schließlich seien es Mikrokontexte der Konstruktion kollektiver Identitäten wie "links sein" oder "jüdisch sein", die in die Antisemitismusdiskurse eingebettet sind.
Um die Ausgangsfragen zu beantworten führte Arnold 30 teilstrukturierte Interviews mit Aktivisten und Aktivistinnen aus der Antikriegsbewegung, Pro-Palästina-, Occupy Wall Street und der israelkritischen jüdischen Diasporabewegung durch, wobei insgesamt Mitglieder aus 16 verschiedenen Gruppen sowie drei Einzelpersonen aus der Anarcho- und Queer-Szene befragt wurden. Darüber hinaus wurden teilnehmende Beobachtungen, Experteninterviews und Dokumentenanalysen durchgeführt, deren Ergebnisse jedoch nur am Rande berichtet werden.
Unter Zuhilfenahme von theoretischen Konzepten aus der Bewegungsforschung wie "Framing", "Gelegenheitsstrukturen" oder "kollektiver Identität" werden nach einer einführenden begrifflichen Klärung und historischen Rahmung zentrale Topoi, einerseits das Thema "Juden", andererseits das Thema "Antisemitismus" betreffend aus dem Interviewmaterial destilliert. Bis auf das immer wieder auftauchende Vorurteil, Juden hätten überproportional viel Macht in Amerika sowie dem hin und wieder geäußerten Vorwurf, zionistischen Juden sei Israel wichtiger als das eigene Land, seien offen artikulierte klassisch antisemitische Stereotype unter den Befragten nicht zu beobachten gewesen. Die Interviewpartner und Interviewpartnerinnen erklären sich antisemitische Ressentiments größtenteils selbst damit, dass Jüdinnen und Juden in den USA zu einer privilegierten Schicht der Bevölkerung gehören sowie Israel die Palästinenser unterdrücke; aber auch damit, dass die "herrschende Klasse" die Juden als Sündenbock benutze, um von den wahren Schuldigen abzulenken. Generell stelle Antisemitismus für die Befragten kein wichtiges politisches Thema dar.
Dass klar als antisemitisch zu erkennende Kommunikationselemente in den Interviews nicht auftauchen, sei angesichts der Normierung des Themas durchaus nicht überraschend. Aus diesem Grund müssten sogenannte "Anschlussdiskurse" analysiert werden, um auf diesem Weg Erkenntnisse über eventuell vorliegende aber nicht geäußerte antisemitische Einstellungen gewinnen zu können. Die wichtigsten solcher Anschlussdiskurse seien Antirassismus, der Nahostkonflikt, die Politik der USA und Holocaustgedenken. Es wird gezeigt, wie ein für die US-Linke spezifisches Kategoriensystem einerseits zu einer Verharmlosung des Antisemitismus und andererseits zu einem auf Doppelstandards, Manichäismus und Dämonisierung beruhenden Antizionismus führen. Der Fokus auf Rassismus gegen Schwarze und das "whitening of Jews" bewirke, dass Jüdinnen und Juden als "Privilegierte" wahrgenommen würden, die nicht von Diskriminierung betroffen seien.
Zudem werde Antisemitismus nur als strategisch eingesetzter Vorwurf begriffen, um Rassismus gegenüber Muslimen zu legitimieren. Eng verknüpft damit, sei der "Frame" des Nahostkonflikts, in dem Israel als "Apartheitsstaat" dargestellt und ein manichäisches Täter-Opfer-Schema angelegt wird, bei dem die Politik Israels teilweise mit dem der Nationalsozialisten gleichgesetzt wird. Holocaustgedenken wird dabei als instrumentelles Mittel zionistischer Jüdinnen und Juden kritisiert. Letztlich werden vor dem Hintergrund einer anti-imperialistischen, Israel als Agent amerikanischer Interessenspolitik bebildernden Weltanschauung, Israel und die USA zu den Hauptfeinden der subalternen Massen erklärt. Dennoch sei, so Arnolds Fazit, "Antizionismus [...] keine 'Maske', um den Antisemitismus zu beschönigen, er nimmt keine Camouflage-Form an" (415f.). Ebenso wenig sei der oft verkürzten und personalisierenden Kapitalismuskritik, die sowohl in der von Arnold ausführlicher behandelten Occupy Wall Street Bewegung als auch bei einigen der Interviewten zu finden gewesen sei, eine Affinität zu explizit antijüdischen Positionen nachzuweisen.
Dieses Urteil ist angesichts des an sich präsentierten Materials durchaus überraschend: Als antisemitisch gilt Antizionismus, so legt Arnold nahe, wenn er auf antisemitischen Einstellungen oder Intentionen beruht. Zunächst betont die Autorin jedoch eingangs, dass sie sich gerade nicht mit Einstellungen, sondern mit Semantiken beschäftigen möchte (42ff.). Von der semantischen Latenz antisemitischer Stereotype auf die Abwesenheit von Einstellungen zu schließen ist jedoch durchaus problematisch, gerade wegen der Camouflage- oder Umwegkommunikation antisemitischer Inhalte. Wieso sollten die Interviewten vor ihrer Interviewpartnerin - vielleicht sogar vor sich selbst - nicht verbergen wollen, dass ihr Antizionismus sich zu Vorurteilen gegenüber "Juden" an sich ausgewachsen hat? Zu Beginn des Buches wird bei der Definition des Antisemitismusbegriffes bewusst offengelassen, ob antizionistische Positionen den Tatbestand des Antisemitismus erfüllen. Dies sei vom Kontext abhängig. Nach Betrachtung dieses Kontextes wird nun resümiert, dass keine antisemitischen Intentionen festzustellen gewesen seien. Gerade diese Intentionen sind es jedoch, die eine semantische Kontextanalyse normalerweise zu Recht in den Hintergrund stellt. Um antisemitisch zu sprechen, müssen keine antisemitischen Motive vorliegen. Arnold zeigt, wie rechtsextreme Gruppen an linke Narrative über "jüdische Macht" anknüpfen können. Aber selbst, dass solche Motive bei Arnolds Befragten völlig ausgeschlossen werden können, ist angesichts des "Konversionszwangs" in Bezug auf das Thema Israel, dem sich linke Jüdinnen und Juden ausgesetzt fühlen, zumindest fraglich.
Obwohl die Schlussfolgerungen des Buches an manchen Stellen somit kontrovers zu diskutieren sind, was angesichts der Tatsache, dass Arnolds Buch nicht nur ein akademisches, sondern auch ein politisches Werk ist - gleichermaßen innerhalb der Diskussion stehend, die es analysiert - nicht überraschen kann, liefert es einen unschätzbaren Beitrag. Es klärt über eine Form des Antisemitismus auf, die an amerikanischen Campussen trotz der offenen Boykottaufrufe und Denunziationen gegenüber jüdischen Akademikern und Akademikerinnen immer wieder "unsichtbar" gemacht wird. Für die deutsche Leserschaft, für die es geschrieben wurde, dürfte das 450 Seiten starke Buch wichtige Erkenntnisse bereithalten, sowohl was die Spezifika der amerikanischen Antisemitismusdiskussion als auch die Flexibilität antisemitischer Ressentiments unter anderen Gelegenheitsstrukturen betrifft. Für die amerikanische (und internationale) Leserschaft wird es hoffentlich bald ins Englische übersetzt, um die notwendige Debatte über den Antisemitismus innerhalb der amerikanischen (und globalen) Linken weiter voranzutreiben.
Sina Arnold: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11, Hamburg: Hamburger Edition 2016, 487 S., ISBN 978-3-86854-303-2, EUR 38,00
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