Fliege im Wein? Fliege entfernen oder Wein samt Fliege entsorgen? Wenn nun aber eben diese Fliege im bereits geweihten Messwein paddelt? Die Antwort der mittelalterlichen Gelehrten verrät die kompromisslose Orientierung am Unverhandelbaren: Die nun durch den Kontakt mit dem geheiligten Wein ebenso geheiligte Fliege ist zu schlucken oder widrigenfalls aufzubewahren (50f.).
Alain Rauwel hat grundsätzlich recht, wenn er die mittelalterliche Liturgie bis in die moderne Forschung hinein als klerikale Geheimwissenschaft klassifiziert - mysteria non omnibus sunt relevanda (30) -, welche von der vornehmlich laikalen Forscherwelt eher bestaunt denn durchdrungen worden sei. Und auch wenn die Lage generell weniger ernst sein, die moderne internationale Ritualforschung sich vielleicht auch nicht in erster Linie für die Mysterien der Heiligen Messe interessiert haben mag, so stimmt es im Grundsatz bis heute, dass die Mediävistik sich in ihrer Breite eher weniger für die Arkana der mittelalterlichen Messfeier interessiert. In diese Lücke stößt Rauwel mit seiner vollständig aus älteren Publikationen äußerst pragmatisch kompilierten Aufsatzsammlung. Leider hofft man vergebens auf eine für diesen Band konzipierte Einleitung, welche die ratio eligendi hinter der Zusammenstellung hätte erhellen können. Und ein mehr als nur die Personennamen umfassendes Register vermisst der Liturgielaie möglicherweise schmerzlicher als er das vorhandene Verzeichnis der Handschriften vermissen würde. Doch bietet das Buch nichtsdestoweniger einen interessanten und erkenntnisträchtigen Einblick in unterschiedlichste mit der mittelalterlichen Liturgie verknüpfte Fragestellungen. Besonders hervorzuheben ist das bei Rauwel stets spürbare Bestreben, die Rückbindung der Liturgie an lokale soziale Entwicklungen herauszuarbeiten. Und auch wenn, vielleicht gerade weil diese Versuche oft recht zaghaft bleiben, vorhandenes Potential eher antippen als ausreizen, macht diese Aufsatzsammlung deutlich, dass bei einer vergleichenden Untersuchung lokaler und regionaler Liturgien noch zahlreiche Schätze zu heben sind.
Die Kompilation beginnt mit einer Einleitung über die "espaces de la liturgie" (11-18), welche sehr kurz und stark auf die französischsprachige Literatur konzentriert in die Forschungslage einführt und die mittelalterliche Liturgie als Forschungsfeld und -aufgabe umreißt, wobei Rauwel seinen eigenen Forschungsschwerpunkten entsprechend die Kirche als Liturgieraum und den Altar als Zentrum der Messliturgie hervorhebt.
Der anschließende erste Teil, anspielungsreich "les mots et les choses" (21-57) betitelt, beginnt mit einem sehr aufschlussreichen Beitrag über die expositiones missae des 12. Jahrhunderts, Werken also, welche den theologischen Sinn des traditionellen Messritus zu erklären und zu erhellen versuchen und dabei eine Arbeit mit dem Text offenbaren, welche den mittelalterlichen Glossenwerken zu den heiligen wie den juristischen Schriften nicht nachsteht. Und wie dort erweist sich auch bei der Liturgie, dass die Normen zunehmend festgeschrieben gewesen sein mögen - dass sich aber im Kommentar die kontroverse Vielfalt und Heterogenität des Nachdenkens über den in der ganzen Christenheit zentralen Messritus präsentiert. Die folgenden kurzen Beiträge befassen sich mit den seit spätantiker Zeit im Messkanon angerufenen Heiligen sowie den Besonderheiten der Osterliturgie in Katalonien, wobei man besonders diesem Beitrag eine gewisse hermetische Qualität nicht absprechen kann. Der folgende Aufsatz über die Rolle von Wein und Feuer in der mittelalterlichen Messliturgie bietet dann einen sehr interessanten, dank seiner plastischen Quellenbeispiele durchaus unterhaltsamen Einblick in die Feier der Messe, der unter anderem die Frage klärt, warum der Messwein, das Blut Christi, in der lateinischen Kirche traditionell ein Weißwein ist (49).
Der zweite Abschnitt zum Thema "les enjeux du rituel" (61-95) enthält vier Beiträge zur Entwicklung der Liturgie zwischen römischem Streben nach Einheitlichkeit und Zentralität und bisweilen starken lokalen Traditionen. Rauwel kann die gregorianischen, die Liturgie betreffenden Vereinheitlichungsbestrebungen in eine längere, bis in karolingische Zeit zurückreichende Zentralisierungsgeschichte einschreiben, welche stets die Orientierung der lokalen Kirchen auf Rom zum Ziel hatte. Diesen Ansatz verfolgt er im folgenden Beitrag am Beispiel von Mailand und Toledo weiter, wo der Versuch, lokale liturgische Traditionen zu erhalten, hartnäckig bekämpft wurde. Wiederum die Zeit des 12. Jahrhunderts traktiert der folgende Aufsatz über die "Exaltation de la Romanité" durch Autoren wie Bernold von Konstanz bis hin zu Lothar von Segni, dem späteren Papst Innocenz III., wobei es kaum verwundert, dass dieser Jurist schon in seinem frühen Text den Primat der römischen Kirche und des Papstes betont, welcher natürlich auch für liturgische Fragen zu gelten hat. Der letzte Beitrag dieses Abschnitts widmet sich dann der priesterlichen Rolle und Funktion der Bischöfe in Abgrenzung zu den ebenfalls geweihten Mitgliedern ihres Sprengels.
Der abschließende und längste Teil des Bandes befasst sich mit dem "lieu du sacrifice" (99-147) und damit dem Altar. Dieser Abschnitt erweist dann auch den Gegenwartsbezug liturgiehistorischer Forschung, wenn immer wieder auf die Liturgiereform des II. Vaticanum verwiesen wird. Während der erste Beitrag dieses Abschnitts den Altar als Zentrum von Gesellschaft begreift - diese begriffen sowohl als Gesellschaft der Heiligen wie der Menschen -, widmet sich der zweite Aufsatz mit der räumlichen Ausrichtung des Altars und des Gottesdienstes einem zentralen Thema zeitgenössischer Liturgiekontroverse: Nach Rauwel muss es nicht verwundern, dass die Messfeier versus populum in den Quellen des Mittelalters nicht behandelt wird, war die Orientierung nach Osten doch liturgisch alternativlos, eine Ausrichtung nach Westen geradezu absurd. Der folgende Artikel über die "valorisation de l'autel" verfolgt die Aufwertung des Altars als Ort der in der Messe stets aktualisierten Passion Christi, welche sich auch in seiner künstlerischen Gestaltung niederschlägt. Diesen Ansatz vertieft Rauwel im anschließenden Beitrag, welcher die liturgische Rolle der Kathedrale als Raum erhellt. Anschließend wendet der Liturgiehistoriker sich dem Kanonisten Guillelmus Durandi zu, dessen Speculum iudiciale sich bis heute breiter Wertschätzung erfreut, der sich in seinem Rationale aber auch sehr intensiv mit der Messe und ihrer Liturgie auseinandergesetzt und dabei besonders den inneren Menschen in seiner Beziehung zu den externen Akten der Liturgie behandelt hat. Der letzte Beitrag wendet sich dann etwas unvermittelt mit Lazare Bocquillot einem Liturgiespezialisten der Aufklärung zu, um an seinem Beispiel den Auftrag des Erforschers der christlichen Liturgie zu verdeutlichen, der sich sowohl einer jahrhundertealten Tradition verpflichtet fühlt, als auch gleichzeitig gemäß den Erfordernissen seiner Zeit und Gesellschaft zu neuen interpretatorischen Ufern aufbrechen muss.
Die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Liturgie schärft den Blick für die Vielfältigkeit christlicher Glaubensübung in einer Zeit, die gern als fertig in ihrer Unvollkommenheit und Veränderungen gegenüber unzugänglich gesehen wird. Die Lektüre ruft dazu auf, die Feier der Messe eben nicht als bloßes Ritual, sondern als zentralen, lebendigen und auch gesellschaftlich relevanten Aspekt mittelalterlicher Frömmigkeit zu sehen und zu bedenken. In diesem Sinne seien dem Buch zahlreiche Leser gewünscht.
Alain Rauwel: Rites et société dans l'Occident médiéval (= Les Médiévistes français... et d'ailleurs; 13), Paris: Picard 2016, 152 S., ISBN 978-2-7084-1013-8, EUR 30,00
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