Darstellungen jüdischer Lebensrealitäten im heutigen Spanien fokussierten weitgehend auf den Süden der Halbinsel, während das nördliche Kastilien bislang kaum Gegenstand intensiverer Betrachtung war. Umso höher ist der Wert der Studie von Maya Soifer Irish, derzeit assistant professor of history an der Rice University (Houston, Texas), einzuschätzen, die mit "Jews and Christians in Medieval Castile. Tradition, Coexistence, and Change" ihr erstes Buch vorgelegt hat.
Nordkastilien war aufgrund der Pilgerroute nach Santiago de Compostela stets eine wichtige wirtschaftliche Ader. Diesem Aspekt fügt Irish die Analyse der Region als internal frontier - militärisch, aber auch wirtschaftlich-sozial - hinzu, entlang derer ab dem 11. Jahrhundert durch gezielte königliche Territorialpolitik zahlreiche jüdische Ansiedlungen entstehen konnten. Deren rechtliche und wirtschaftliche Lebensbedingungen standen im Gegensatz zu den auf den Grundlagen muslimischer Rechtsvorstellungen basierenden Gebieten Südspanien. Dadurch ist Irish nur bedingt in die Reihe der Kritiker der convivencia-Theorie, der postulierten friedlichen Koexistenz in Al-Andalus, einzuordnen, da sie deren Umlegung auf ihr Untersuchungsgebiet aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen generell ablehnt (5).
Die drei Überkapitel (mit acht Unterkapiteln) folgen weitgehend einer chronologischen Zeitlinie. Das erste ist den Beziehungen der Juden zur Krone gewidmet ("The Jews of Northern Castile and León, ca. 1050-ca. 1350", 19-74). Die königliche Ansiedlungs- und Privilegierungspolitik des 11. bis 13. Jahrhunderts schuf eine Vielzahl jüdischer aljamas, d. h. sich selbst verwaltender Gemeinden, entlang des Camino de Santiago und seiner Nebenwege, wobei Irish dem erwarteten Bild urbaner Siedlungskonzentration widerspricht: zahlreiche aljamas waren klein und befanden sich in ländlichen Umgebungen. Berufsvielfalt und rege Interaktion mit dem christlichen Umfeld zeichneten diese erste Epoche jüdischer Existenz aus.
Das zweite Überkapitel ("Judei Nostri: The Church and the Jews in Northern Castile", 77-147) ist der Beziehung zur Kirche gewidmet, wobei Irish eine Unterscheidung zwischen der theoretischen kirchlichen Gesetzgebung und der kirchlichen Politik in the real world einfordert (81). Diesem differenzierten Ansatz folgend ist auch keine cogent and distinct response der kastilischen Kirche auf die jüdische Präsenz festzuhalten (126-129); vielmehr ist es gerade der Blick auf die vielfältige real world, der Irishs Analyse auszeichnet. Juden (und ihre Steuern) waren durch königliche Belehnungen an kirchliche Institutionen ein integraler Bestandteil kirchlicher Wirtschaft. Irish hinterfragt nicht nur die Annahme, Judenkredite würden eine schlechte Wirtschaftslage des (kirchlichen) Schuldners bedeuten, sondern geht dem Zweck der Kreditaufnahme nach, den sie weitgehend in convenience loans (117) verortet.
Im dritten Überkapitel ("Jews and Christians in Northern Castile, ca. 1250-1370, 151-261) greift Irish das Konzept der frontier wieder intensiver auf. Während die Verlagerung der military frontier nach Süden zunächst Siedlungsanreize für Juden mit sich brachte, bedeutete die Annexion Andalusiens eine Schwächung der (damit weniger "nützlich" gewordenen) Juden. Einflüsse aus dem deutschsprachigen Raum (Aschkenas) und dem christlichen Bereich führten zu einer Loslösung der nordkastilischen Juden from [their] Andalusian heritage (157). Gleichzeitig zeigten sich die an Bedeutung gewinnenden Städte und die urban knights sowohl für die Verschlechterungen der Rechtsgrundlagen jüdischer Existenz als auch für einen Großteil der antijüdischen Agitation verantwortlich, während sich die königliche Politik weg vom Schutzgedanken hin zu fiskalischer Ausnutzung bewegte (dem von Irish auf S. 176 gezogenen Vergleich mit ähnlichen Prozessen in Frankreich, England und Aragon sei auch das Heilig Römische Reich angefügt).
Irishs Verständnis der jüdischen Geschichte als ein integraler Bestandteil der Geschichte der untersuchten Gebiete ist als eine der größten Meriten ihrer Arbeit zu werten. Diese Einbettung in allgemeine Entwicklungen zeigt sich auch und vor allem in ihren detaillierten Quellenanalysen, beispielsweise in ihrer Gegenüberstellung der auf das Privatleben fokussierten internen jüdischen Gesetzgebung des 13. Jahrhunderts zu der ebenfalls auf die Regulierung des (Privat)Haushalts abzielenden königlichen Gesetzgebung der Zeit (163-165). Auch überregionale politische Zusammenhänge werden thematisiert, etwa der finanzielle Druck König Alfons' X. aufgrund seiner Kandidatur im Reich, der sich unmittelbar in seiner Judenpolitik niederschlug und zu einer verstärkten Tätigkeit im Bereich der Geldleihe führte, was wiederum durch die erstmalige Perzeption dieses Berufs als essentially Jewish activity (189) die jüdisch-christlichen Beziehungen erheblich verschlechterte.
Besonders hervorzuheben ist Unterkapitel 8 (221-257), in dem sich Irish der Untersuchung der antijüdischen Tendenzen in den Petitionen an die cortes widmet: die Heranziehung einer wirtschaftlichen Quelle hat im Rahmen der eher auf literarische und chronikale Texte zurückgreifenden Polemikforschung (noch) Seltenheitswert. Durch die Verknüpfung von theologischem Antijudaismus, antijüdischer königlicher Gesetzgebung und Wirtschaftsquellen stellt Irish das Aufeinandertreffen verschiedener Motivationen antijüdischer Agitation dar. Auch der umfassende Vorwurf, Juden als Außenseiter hätten als Gläubiger und Amtsträger Macht über Christen, wird durch die Sicht der Stadtbürger auf die Juden als Mitglieder einer generellen Gruppe von "Außenseitern" (mit Klerus, Adel) einerseits und als "spezifisch andere" Gruppe andererseits weiter differenziert (241).
Die Durchdachtheit ihrer Studie zeigt sich auch daran, dass Irish mehrere Themen - neben der frontier beispielsweise den sogenannten "gemischten Zeugenbeweis" sowie Bekleidungsvorschriften - in unterschiedlichen Zusammenhängen, Regionen und Jahrhunderten für die Beantwortung spezifischer und genereller Fragestellungen heranzieht. Detailstudien (z. B. zu den Gesetzen König Alfons' X., 178-189, zu Schuldeneintreibungsmethoden in Belorado und Miranda de Ebro, 206-220) werden gelungen in das Gesamtnarrativ eingebunden und dienen stets zur Illustration allgemeiner Entwicklungen.
Kritikpunkte bleiben weitgehend punktuell (so ist Asher ben Yehud kaum als [the] head of German Jewry um 1300 anzusprechen, 154), wünschenswert wäre eine teilweise noch stärkere Hinterfragung mancher Quellen (z. B. königliche Privilegien, 170, Beschwerden an den Papst, 112). Manche Fragen müssen wohl auch aufgrund des spärlichen Quellenmaterials unbeantwortet bleiben (z. B. das Ausmaß und der Zweck - Herstellung koscherer Nahrung? - jüdischer Agrartätigkeit). Hinweise darauf hätten dem Erkenntniswert keinen Abbruch getan.
Irish portraitiert die nordkastilischen Juden als sowohl mit den Obrigkeiten als auch ihrem christlichen Umfeld aktiv Interagierende, allein schon dafür sei ihre erkenntnisreiche Studie, deren enorme Dichte hier nur ansatzweise dargestellt werden konnte, jedem Interessenten ans Herz gelegt. Drei Karten, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis und ein Index (Personen- und Ortsnamen, Schlagworte) runden das höchst empfehlenswerte Werk ab.
Maya Soifer Irish: Jews and Christians in Medieval Castile. Tradition, Coexistence, and Change, Washington, DC: The Catholic University of America Press 2016, XX + 308 S., ISBN 978-0-8132-2865-5, USD 69,95
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