sehepunkte 17 (2017), Nr. 11

Marco Dräger: Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland

In Kassel gerieten 1985 Senioren am Volkstrauertag mit jüngeren Demonstranten aneinander. Es kam gar zu Handgreiflichkeiten, die von den älteren Jahrgängen ausgingen und in die selbst Pressevertreter hineingezogen wurden. Was wie ein spontaner und glücklicherweise nicht allzu verhängnisvoller Gewaltausbruch von Weltkriegsveteranen wirkt, war Teil einer lang andauernden und heute noch folgenreichen Auseinandersetzung um die Stellung des Militärischen in der Bundesrepublik. Die Göttinger Dissertation Marco Drägers, die mit einigen solcher vergessener Episoden aufwarten kann (siehe für diese 222-226), erschließt in dem Zusammenhang ein sich erst entwickelndes Forschungsfeld.

Denn während Kriegerdenkmäler seit vier Jahrzehnten erforscht werden, liegen zu ihren Kontrapunkten, den Deserteur-Denkmälern, nur einige wenige Beiträge vor. [1] Als "wichtigsten Faktor für die veränderte Sichtweise auf die Wehrmacht-Deserteure" (122) benennt Dräger die Friedensbewegung. Die dahinterliegenden Aushandlungsprozesse untersucht er unter dem Aspekt der Generationalität. Den Kern der Arbeit bilden dabei zwei Fallstudien - eben aus Kassel sowie dem benachbarten Göttingen -, deren Befunde dann im überlokalen Rahmen kontextualisiert werden.

Zunächst jedoch präsentiert Dräger die Leitbegriffe "Generation", "Gedächtnis", "Denkmal" und ebenso die Trias von "Geschichtskultur, Erinnerungskultur und kollektivem Gedächtnis". Das Kapitel trägt handbuchartige Züge und zur Lesefreude trägt nicht gerade bei, wenn Dräger im Anschluss einer zehnseitigen Erläuterung der letztgenannten Begriffe resümierend von einem "Glasperlenspiel" (107) spricht. Nach den theoretischen Ausführungen stellt Dräger vergleichsweise kurz seine Methode vor, die der historischen Diskursanalyse verpflichtet ist. Eine Einführung in den gesellschaftlichen Kontext der letzten beiden Jahrzehnte der alten Bundesrepublik - unter anderem in den Geschichtsgebrauch während der Debatte um den Nato-Doppelbeschluss - schließt den Einleitungsteil ab.

Die darauffolgenden, äußerst lesenswerten Fallstudien zur Errichtung von Deserteur-Denkmälern in Kassel (1987) und Göttingen (1990) basieren auf umfangreichen Quellenrecherchen, besonders auch in kommunalen und privaten Archiven. In beiden Städten stand ein nach dem Ersten Weltkrieg errichtetes Kriegerdenkmal im Fokus der Kontroverse. In beiden Kapiteln werden zunächst die Karrieren der beiden Kriegerdenkmäler in der Zeit des Nationalsozialismus sowie der frühen Bundesrepublik vorgestellt. Darauf folgen die Analysen der Debatten um ein lokales Deserteur-Denkmal, wobei eine entsprechende Forderung in Kassel 1979 bundesweit zum ersten Mal erhoben wurde (die DDR bleibt in der Untersuchung ausgeklammert). Dräger blickt dabei nicht bloß auf die Diskussionen in Fachausschüssen, im Stadtrat oder in Leserbriefspalten, sondern geht auch auf die performativen Gedenkakte an den Denkmälern ein: Trauer- und Kameradschaftsrituale, Gegendemonstrationen wie die bereits eingangs erwähnte, aber auch Vandalismus - im Falle Göttingens gar bis zum Denkmalsturz im Jahr 1988.

Im Hinblick auf den Forschungsstand entsprechen damit beide Fallstudien Michaela Stoffels' Forderung, in Kriegerdenkmalsanalysen danach zu fragen, "welche Wahrnehmungen und soziale Handlungen neben dem politischen Totenkult existierten". [2] Dadurch bieten sich zukünftig interessante Vergleichsperspektiven - etwa zu den Befunden in der (fast zeitgleich erschienenen) Dissertation Isabel Leichts über das Gefallenengedenken in den bayerischen Mittelstädten Penzberg und Rosenheim. [3]

Nach seinen Lokalstudien analysiert Dräger den Diskurs auf der nationalen Ebene. Er untersucht dabei sowohl ein Positionspapier der Bundeswehr als auch Bundestags- und Bundesratsdebatten über die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren und sogenannten Kriegsverrätern sowie entsprechende Urteile des Bundessozialgerichts und des Bundesgerichtshofes von 1991 und 1995. Zudem werden Diskussionen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ausgewertet, Entwicklungen in der historischen Forschung skizziert und die Rezeption der Wehrmachtsausstellung behandelt. Zwar entfernt sich die Studie in diesen Kapiteln von den titelgebenden Deserteur-Denkmälern und leider auch ein wenig von der Lebendigkeit der beiden Fallstudien. Allerdings werden in den späteren Kapiteln spannende Einsichten in die Geschichts- und Vergangenheitspolitik der Berliner Republik vermittelt - etwa hinsichtlich der Rolle der EKD, deren "Kundgebung" auf der Borkumer Synode von 1996 später im Bundestag gewissermaßen als Leitfaden genutzt wurde. Und auch für diese Felder gelingt Dräger der Nachweis, wie wichtig das Sprechen über "Generation" in den Debatten um die Wehrmachtsdeserteure war.

Am Ende seiner Studie ordnet Dräger die Befunde für Kassel und Göttingen in den größeren Kontext ein. Er vergleicht sie kurz, aber erhellend, mit den entsprechenden Initiativen in anderen Städten. Dabei wird von einer ersten Phase ausgegangen, die mit der Friedensbewegung begann. Ihr folgten zwei weitere, nämlich nach der Wiedervereinigung (respektive dem Ende des Kalten Krieges) und der gesetzlichen Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure im Jahr 2002. Mittlerweile werde diese Debatte international rezipiert und wirke sich zum Beispiel auf die britische Geschichtskultur aus. Auch hier eröffnen sich interessante Vergleichsperspektiven, gerade im Hinblick auf die Idee eines geschichtskulturellen Sonderwegs. [4]

Die Initiatoren der Deserteur-Denkmäler seien zwar linksorientierte junge Männer gewesen, jedoch sei die Trennungslinie bereits Mitte der 1990er-Jahre eher generationell bedingt als durch politische Lager oder Milieus geprägt gewesen. Aus diesem Befund leitet Dräger eine methodologische These ab: Zumindest im Fall der Wehrmachts-Deserteure fungiere "Generation" nicht allein als "Selbstthematisierungsformel", sondern auch als "analytische Kategorie" (547). Karl Mannheim zitierend geht es ihm dabei um "das Einsetzen 'neuer Kulturträger'" (547), die allmählich in Machtpositionen gerieten und sich eben sozialisationsbedingt in ihrer Mentalität von bisher etablierten Eliten unterschieden. Eben ein solcher Generationenwandel habe Deserteur-Denkmäler ermöglicht. Sozialgeschichtliche und politikwissenschaftliche Methoden hätten diese Erklärung, die sich mit den jetzt vorliegenden Befunden Anne-Katrin Patzelts deckt [5], unter Umständen noch weiter gestützt. In jedem Fall aber bietet die These von der für Dräger "'unentrinnbar[en]'" (550) generationellen (Prä-)Figuration historischen Denkens und Lernens interessante Ansatzpunkte für die Theoriebildung innerhalb der geschichtsdidaktischen Forschung.

Zukünftige Studien zur Stellung des Militärischen in der Geschichtskultur der Bundesrepublik werden sich an Marco Drägers Leitthese und Zäsursetzung orientieren können. Aber auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes trifft die umsichtige und materialreiche Untersuchung einen Nerv: Hier ist vor allem auf die Debatte um den Umgang mit den Wehrmachtstraditionen in der Bundeswehr zu verweisen, die im Mai dieses Jahres ausgebrochen ist. [6]


Anmerkungen:

[1] Roland Müller: Ein Lob der Feigheit. Deserteur-Denkmale in der Bundesrepublik Deutschland, in: Creating Identities. Die Funktion von Grabmalen und öffentlichen Denkmalen in Gruppenbildungsprozessen, hgg. von Reiner Sörries / Stefanie Knöll, Kassel 2007, 262-269; Steven R. Welch: Commemorating 'Heroes of a Special Kind'. Deserter Monuments in Germany, in: Journal of Contemporary History 47 (2012), H. 2, 369-399; Marc Bittner / Reinhold Gutschik: Der Diskurs über Wehrmachtsdeserteure anlässlich des Deserteursdenkmals in Wien (2010-2013), in: Jahrbuch. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (2015), 273-296; siehe auch die erst nach Drägers Arbeit veröffentlichte Dissertation von Anne-Katrin Patzelt: Die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren. Eine Analyse der Debatte in der BRD, http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.de/id/eprint/5998, 02.03.2017 (zuletzt aufgerufen am 04.10.2017).

[2] Michaela Stoffels: Kriegerdenkmale als Kulturobjekte. Trauer- und Nationskonzepte in Monumenten der Weimarer Republik, Köln / Weimar / Wien 2011, 34.

[3] Isabel Leicht: Der Kriegstoten gedenken. Lokale Erinnerungskulturen in Rosenheim und Penzberg nach 1945, Rosenheim 2016, 282-287 und 360-379.

[4] Siehe dazu Welch: Commemorating (Anmerkung 1), 371.

[5] Vergleiche Patzelt: Rehabilitierung (Anmerkung 1), 199.

[6] Siehe dazu die Analyse von Sönke Neitzel: Entfernung von der Truppe, http://www.faz.net/-gsf-913hn, 27.08.2017 (zuletzt aufgerufen am 04.10.2017).

Rezension über:

Marco Dräger: Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland (= Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken; Bd. 4), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2017, 705 S., 35 Farbabb., ISBN 978-3-631-71971-8, EUR 99,95

Rezension von:
Jan Matthias Hoffrogge
Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Empfohlene Zitierweise:
Jan Matthias Hoffrogge: Rezension von: Marco Dräger: Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/11/30229.html


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