John Onians schaut sich in European Art. A Neuroarthistory epochenweise die Europäische Kunst von der prähistorischen Zeit bis heute an. Dabei dient das Werk gleichzeitig als Sammlung Onians' langjähriger Forschungstätigkeit und fasst diese zu seinem Lebenswerk zusammen. Neben der Abhandlung von 32.000 Jahren Kunstgeschichte geht es Onians dabei vor allem um die Gründung, Beschreibung und Anwendung einer gänzlich neuen Forschungsrichtung: der Neuroarthistory. Das Buch ist eine chronologische, dabei höchst eigenwillig ausgewählte Untersuchung europäischer Kunst angefangen bei prähistorischen Wandmalereien, über die Antike, die Gotik Englands, Frankreichs und Italiens, die frühe Moderne in Europa, bis ins 20. Jahrhundert und den Designs von Le Corbusier und Malevich. Der US-amerikanische Künstler Gerard Caris wird am Ende als lebendes Untersuchungsobjekt herangezogen, dem es obliegt, anhand des eigenen Lebenswerks Onians' Thesen zu beweisen.
Bevor Onians sich der ausführlichen Beschreibung und Analyse der jeweiligen Kunstepochen widmet, definiert er seinen theoretischen Bezug auf die Neurowissenschaften, deren Ausführungen die Grundlage seiner Neuroarthistory darstellt. In der Einleitung führt Onians auf wenigen Seiten in die Hirnforschung und auf die von ihm verwendeten, vermeintlich neurowissenschaftlichen Konzepte insbesondere der Kognitionswissenschaften, wie Studien zum visuellen Kortex, den Spiegelneuronen und allgemein der Hirnplastizität, ein. Hierbei fällt auf, dass die gleichen, vermeintlich neurowissenschaftlichen Erklärungsmodelle einerseits für ganze Kunstepochen (wie den 'Höhlenmenschen', den Griechen, den Römern) in Gesamtunion geltend gemacht werden und andererseits diese Erklärungsmuster der Veranschaulichung künstlerischer Leistungen bedeutender Kunstschaffender (wie Alberti, Turner, Malevich) in Personalunion dienen.
Thematisch geht Onians in seinem Buch hauptsächlich zwei Fragen nach: Warum machen Menschen Kunst und was beeinflusst sie dabei? Um diese Fragen zu beantworten bedient sich der Kunsthistoriker neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Onians' recht nachvollziehbares Erkenntnisinteresse wird in seinem Buch auf 377 Seiten sehr ausführlich, in der Begründung jedoch eher unterkomplex ausgeführt: Jedes Argument und jede Beweisführung folgt dem gleichen Grundgedanken: Künstler (Onians beschreibt diese Logik natürlich nicht ausschließlich für männliche Künstler, aber trotz seines breiten Beispielkatalogs kommen Künstlerinnen im Buch nicht vor) geben in ihrer Arbeit das wider, was sie als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Eindrücke, Reize und Stimulationen, die Eingang in die visuelle Cortex gefunden haben, finden sich ergo auch in der Kunst wieder. Eine Beweisführung dafür vornehmen zu können, sieht Onians in seiner neurokunstgeschichtlichen Vorgehensweise. Diese geht anhand von fünf Schritten vor: Zunächst gilt es, eine spezifische künstlerische Handlungsweise, die dann beforscht werden soll, zu erkennen und zu identifizieren. Im zweiten Schritt müssen die Bedingungen des materiellen und sozialen Umfelds des Künstlerindividuums herausgearbeitet werden. Dieser Schritt besteht darin, die visuellen 'Ressourcen' einer bestimmten Epoche herauszuarbeiten beziehungsweise die visuellen Eindrücke von Künstlern aus ihrer Kindheit und juvenilen Sozialisation aufzuspüren und zu beschreiben. Für das Beispiel der Chauvet Höhlenmalerei ist es das Leben in der Höhle und die visuelle Ressource sind die ebenfalls in der Höhle lebenden Bären, die die prähistorischen Menschen zu derart künstlerischem Ausdruck veranlassen. Onians erklärt: "A few individuals [...] went on to mirror them [the bears, hf]. The firing of mirror neurons may thus have inspired both of the techniques used in these extremely early two-dimensional representations, engraving and painting. Such mirroring response can only have been encouraged by the natural empathy that human beings would have felt with bears, who, like them, also spent much time in caves, were omnivorous, frequently stood erect on two legs and whose claws were enviable equivalents to human tools." (27f.)
Die visuelle Grundlage für das Aufkommen des Abstrakten Expressionismus in den Fünfzigerjahren in den USA ist nach Onians' Recherche bei einem Abendessengespräch mit Jasper Johns - ein bekannter Vertreter dieser Kunstrichtung -, die weitverbreitete Dürre in den 30er-Jahren während der Weltwirtschaftskrise. Am Beispiel von Jasper Johns' Geschichte beschreibt Onians, inwiefern die große Depression in den USA Einfluss zunächst auf Jasper Johns' neuronale Netzwerke und dann auf seine Kunst hatte: "It was these visceral anxieties that Johns's uncle had transmitted to him and which he then came to share when he looked at anything field-like. A neural approach had something new and important to add to art history. It could take us down past such familiar factors as an artist's formal concerns, political ideology, social preoccupations or personal affinities to the artist's deeper emotions, the hidden source of his or her inspiration. Standing before a blank canvas in his Manhattan studio in the 1950s, Johns felt unconsciously the hopes and fears of his farmer uncle at the time of the Dustbowl." (3)
Der dritte und vierte Schritt bestehen in der Bestimmung derjenigen instinktiven Belange, die einen nachhaltigen Einfluss auf die individuelle neuronale Formierung hatten und in der Adressierung bzw. Bezugnahme dieser hervorstechenden neuronalen Formierungen auf die Aspekte des kunst-bezogenen Verhaltens. Im letzten Schritt soll ergründet werden, inwiefern das neu herausgefundene Verhältnis zwischen neuronalen Formierungen und spezifischen Verhalten 'unserem' Wissen etwas hinzufügt, oder gar unser Verständnis davon verändert. Im Falle der prähistorischen Menschen in der Chauvet Höhle führt es Onians zu der Entdeckung, dass aus den Beobachtungen der Bären und der Art des künstlerischen Ausdrucks in Gestalt der zweidimensionalen Wandmalereien, sich das Gehirn angeblich zu einem naturalistisch denkenden weiterentwickelte was wiederum zusätzlich bei der Entwicklung der Sprache half.
Bei der Suche nach künstlerischem Verhalten und den dafür verantwortlichen visuellen Ressourcen geht Onians recht fantasievoll vor. Unter anderem entdeckt er dabei das 'christliche Gehirn', dass sich in Europa in der Zeit von 300 bis 1200 nach Christi Geburt dank der gedanklichen architektonischen Glanzleistungen biblischer Urväter herausbildet. Die Konzentration auf die Bibel in dieser Zeit und damit auch auf die darin enthaltenen Beschreibungen architektonischer Metaphern, führten dazu, dass die Baukunst, nach Onians, eine nie dagewesene Wichtigkeit erhält. "For earlier Greeks and Romans the buildings most important to people were real ones, and their properties physical. For Christians from the fourth century onwards, the most important were those they imagined, and their most important properties psychological" (134f.) schreibt Onians. Die Bibel als visuelle Ressource für das christliche Gehirn und das christliche Gehirn als Schöpfer für neue, ungeahnte Bauweisen in der Architektur: "The practice of Christianity thus required the formation of specific new neural pathways in the posterior hippocampus, and recognising this helps us to understand the process by which those practices became ever more deeply embedded in the Christian brain." (135). Der einzige Beweis, den Onians für diese Entwicklung des christlichen Gehirns liefert, das sich insbesondere durch das Anwachsen des hinteren Hippocampus auszeichnet, ist: "We can get some idea of the neural consequences of such training in the imagination of architecture by analogy with the neural consequences of the training of modern taxi drivers in the knowledge of London noted in the Introduction." (135)
Das Buch ist ein Paradebeispiel für den grenzenlosen Deutungsanspruch des derzeit beobachtbaren Neuro-Hype. Quasi: 'Ich sehe, also seh ich und interpretier was ich sehe, mit dem was ich sehe.' Was fehlt, ist die Abstraktionsebene. Denn all die Verkürzungen in Onians' Argumentation ließen sich schon mit Hegel wiederlegen: es gibt einen Unterschied zwischen dem Ding an sich und dem Ding für sich, es gibt die Notwendigkeit, den Phrenologen der damaligen Zeit den Schädel einzuschlagen, um zu beweisen, dass es keine unproblematische Gleichsetzung von (Schädel)Gehirnarealen und ihrer Funktion gibt. Dass Kognition und Erfahrungen nicht rein schematisch, als singulärer Reiz oder einzelne Emotion im Gehirn abgelagert werden, sondern als Variationen und Zusammenschluss verschiedener Muster von Eindrücken, ist eine Unterscheidung die in Onians' reduktionistischem theoretischen Neuroarthistory Konzept verloren geht. Wozu braucht es also den neurowissenschaftlichen Exkurs des Autors? Natürlich kann hinter die Feststellung, dass wir mit unserem Gehirn denken, nicht zurückgegangen werden und ja, gesellschaftliche Bedingungen und individuelle Erfahrungen schreiben sich in neuronale Netzwerke ein. Onians argumentiert, dass künstlerisches Verhalten vor allem mit den neurowissenschaftlichen Konzepten der Plastizität, der Spiegelneuronen und des Belohnungssystems und den drei Begriffen Kontext, Schlüsselbegriffe und Anerkennung verstanden werden kann. Nun gibt es an der Spiegelneuronen-Theorie vielfältige innerdisziplinäre Kritik, bei Onians aber fallen vor allem die Verallgemeinerungen, die er an der Spiegelneuronensystematik vornimmt ins Auge. Sicherlich ist der Anspruch wie ihn der Neurowissenschaftler Vittorio Gallese formuliert und der der Funktionsweise von Spiegelneuronen zugrunde liegt, ein nachvollziehbarer: "The mainstream view in cognitive science was, and to a certain extent even today is, that action, perception, and cognition are to be seen as separate domains. The discovery of the MNS (mirror neuron system, hf) challenges this view as it shows that such domains are intimately intertwined." [1] Festhalten aber lässt sich, dass Spiegelneuronen wenn überhaupt, vor allem in Makakken (Affenart) und insbesondere in der Motorkortex entdeckt wurden. Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn von Primaten beim 'Betrachten' eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigen wie bei dessen 'eigener' Ausführung. Da es beim Menschen schwierig ist, einzelne Neuronen bzw. kleinere Neuronenverbände zu untersuchen, gibt es bis heute eigentlich keine Studien, die Spiegelneuronen als Grundlage für Empathie oder andere Emotionen gefunden haben.
Wenn also Wissenschaftler wie Gallese und andere sich mit dem Zusammenhang von Kunst und Gehirn beschäftigen, dann fragen sie nach der Wirkweise von Kunst und Ästhetik auf das Gehirn. Dies steht deutlich im Unterschied zu Onians' Neurokunstgeschichtsansatz, der eine epistemisch folgenschwere Umkehrung der Fragestellung vornimmt. Der klare Unterschied zu Onians' eigenwilliger Anwendung von der Spiegelneuronentheorie ist, dass diese den neurowissenschaftlichen Versuch einer Öffnung der vormals rigiden Ineinssetzung von Emotion und Wahrnehmung, repräsentiert durch nur einen Sinn (den Sehsinn), in sein Gegenteil überführen will. Onians hingegen nimmt diese Öffnung wieder zurück, er fragt nach den neuronalen Strukturen und dem Aufbau des Gehirns, die ZU einer bestimmten Kunst führen bzw. erklären sollen, WARUM spezifische neuronale Netzwerke dazu führen, dass Menschen Kunst machen. Das ist aber fatal, bietet Onians doch damit eine zutiefst reduktionistische Erklärung, die ästhetische und künstlerische Verhaltensweisen auf spezifische Gehirnstrukturen determiniert. Was Onians mit sehr reduzierten Mitteln zu erklären versucht, ist zu komplex und zu verflochten, um es mit einfachen neuronalen Strukturen allein zu erklären: "Creativity is a distinguished feature of the human condition that I am afraid can hardly be reduced to the functional properties of specific populations of neurons, mirror neurons included." [2]
Im Gegensatz zu vielen Kunstgeschichtlern und Kunstgeschichtlerinnen aber auch zu Neurowissenschaftlern und Neurowissenschaftlerinnen sieht Onians es als Notwendigkeit an, sich im Bereich der Kunstgeschichte biologischen und neurowissenschaftlichen (das wird bei Onians gleichbedeutend verwendet) Ideen zuzuwenden. Auch und vor allem weil viele andere der Forscherkollegen sich dagegen stellen. "Taking their cue from theories as diverse as Marxist economics, Freudian psychoanalysis and Saussurean linguistics, they looked instead to such approaches as Semiotics, Post-Structuralism and Critical Theory." (4) Diese Interpretationsrichtungen seiner Kollegen hält Onians für absolut falsch und behauptet, dass die dort verwendeten Konzepte wie etwa 'Diskurs', das 'Unbewusste' und 'soziale Konstruktion' problemlos durch Befunde der gegenwärtigen Neurowissenschaft erklärt werden könnten: "Indeed, it was becoming increasingly clear that the whole phenomenon of 'social construction', the key concept of the new theorists, could be shown to depend on processes that were ultimately neurological. If all our experiences are mediated [...] they are mediated first by our nervous system." (4)
Die Frage die während der Lektüre bleibt, ist, was will uns Onians mit diesem Buch eigentlich sagen? An keiner Stelle wird klar, welchen Mehrwert seine Herangehensweise für das Verständnis von Kunst hat. Wo befinden sich die Grenzen des behandelten Themas? Wie wird Kunst bei Onians definiert, welche Vorstellung, bzw. welches Wissen der Neurowissenschaften bezieht er in seine Kontextualisierungen und Interpretationen von Kunst mit ein? Diese Fragen wären auch entscheidend für ein besseres Verständnis dessen, von welchen Konzepten der Kunstgeschichte, von welchen kunstgeschichtlichen Perspektiven auf Kunst und Kunstschaffende sich Onians, mit seiner neuen Herangehensweise eigentlich abgrenzen will. Die grundlegende Idee Onians' ist nicht falsch: der Rekurs auf Neuroplastizität als neurowissenschaftliches Modell, für ein sich an die Umwelt anpassendes Gehirn oder die Idee der Spiegelneuronen als Modell, um sich empathisches Verhalten von Menschen zu erklären und über die so begründete Nachahmung Lernprozesse zu beschreiben, sind ernstzunehmende Feststellungen über den Aufbau und die Arbeitsweise des Gehirns. Als Erklärung für ein tiefgreifendes Verständnis vom Gehirn und konkreter Erinnerungsarbeit sind sie aber nicht hilfreich, noch weniger um künstlerische Prozesse zu beschreiben. Und noch wichtiger: mit seiner re-essentialisierenden Sicht auf das menschliche Gehirn und dessen Auswirkungen auf die Vorstellung von dem, was Onians als künstlerische Praxen ansieht, kann er eben nicht die Veränderungen und verschiedenen Gestaltformen der Kunst über Epochen hinweg erklären und noch weniger beweisen. Hilfreich wäre hier unter anderem eine Definition dessen, was bei Onians als Kunst gilt und inwiefern sich der Begriff des Kunsthandwerks - um bei der Metapher der Londoner Taxifahrer zu bleiben - davon unterscheidet. Könnte man doch mit einem anderen Verständnis von Kunst auch genau das Gegenteil behaupten, nämlich dass es Künstler und Künstlerinnen sind, die gängige kunsthandwerkliche Regeln durchbrechen, um zu einem neuen Verständnis von Ästhetik zu gelangen. So aber bleibt, dass Onians in seinem Buch sehr unspezifisch agiert, oder um es mit den Worten von Matthew Rampley zu sagen: "As a result, neuroarthistory offers nothing more than ungrounded speculation and empty generalizations." [3]
Würde man sein Buch und die durchaus interessanten Geschichten, die er über die einzelnen Epochen der Kunstgeschichte zu erzählen weiß, ernst nehmen, sowie die völlig verkürzten Bezugnahmen auf neurowissenschaftliche Erklärungen streichen, könnte Onians' Ansatz als umfassende, fast psychoanalytische, der Deskription verschriebene Methode gesehen werden. Das Kapitel über Le Corbusier etwa ließe sich auch daraufhin lesen, wie stark 'sehen lernen' von einem 'sehen verlernen' abhängig ist. Leider verpasst Onians in seinem Werk die Chance, kritische Perspektiven der Kunstgeschichte miteinzubeziehen und eine materialistisch-kritisch inspirierte Perspektive zu entwickeln. Unklar bleibt bei Onians ebenfalls, welches Potential die Rezeption persönlicher Künstler- und Künstlerinnengeschichten für die Kunstgeschichte haben könnte. Hier sind etwa feministische, marxistische, materialistische oder post-koloniale Perspektiven auf Kunst deutlich weiter, schaffen sie doch einen kritischen und keinen biologischen Blick auf Ästhetik und Kunst.
Anmerkungen:
[1] Vittorio Gallese: Mirror Neurons and Art, in: Art and the Senses, ed. by Francesca Bacci / David Melcher, Oxford 2010, 441-449, hier 442.
[2] Vgl. Anm. 1, 447.
[3] Matthew Rampley: Fish, volcanos and the art of brains, in: Journal of Art Historiography, 24 October 2016, https://arthistoriography.wordpress.com/2016/10/24/matthew-rampley-on-john-onians-european-art-a-neuroarthistory/, 1.
John Onians: European Art. A Neuroarthistory, New Haven / London: Yale University Press 2016, X + 378 S., ISBN 978-0-300-21279-2, GBP 45,00
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