sehepunkte 18 (2018), Nr. 2

Angelika Timm (Hg.): 100 Dokumente aus 100 Jahren

Ein Kompendium mit 100 Dokumenten, das die Geschichte der Friedensinitiativen für Israel und Palästina auf über 700 Seiten umreißen soll, wirft eine Grundsatzfrage auf: Gemessen am äußerst bescheidenen Erfolg der israelisch-palästinensischen Friedensbemühungen - wie viel Sinn macht das akribische Sammeln, annotieren und drucken dieser Dokumentation? Die beste Antwort seitens eines Historikers wäre folgende: Hätten wir uns nur mit Erfolgsgeschichten befasst, bliebe uns nur eine äußerst schmalspurige und wenig anregende Historiografie übrig.

Die Herausgeberin der Dokumentation, die sich in der Materie hervorragend auskennt, gibt in ihrem Vorwort zu, dass "aus dem Studium der Dokumente [...] auch Frustration entstehen" könnte. Doch sie verliert die Hoffnung nicht, hält das Ziel "authentisches Wissen zu fördern", hauptsächlich über "die nichtmilitärischen Mittel" zur Lösung des Konflikts, für eine adäquate Rechtfertigung für die große Mühe um das Buch. Darüber hinaus äußert sie den Wunsch, mit dieser Dokumentation "gedankliche Anstöße für ein künftig produktives Herangehen an den israelisch-palästinensischen Konflikt zu vermitteln". Inschallah!

Realistisch betrachtet ist die Geschichte, die mithilfe der 100 Dokumenten skizziert wurde, die Geschichte des Scheiterns nicht nur der Friedensinitiativen für Israel und Palästina, sondern im Endeffekt auch des Scheiterns des Zionismus und des durch ihn entstandenen palästinensischen Nationalismus.

Die Periodisierung der Dokumentation leuchtet ein: Im ersten Kapitel geht es um die Grundsteinlegung (Balfour Deklaration). In zweiten Kapitel wird die Zeit bis zum Krieg 1948 behandelt. Dann folgt in einem weiteren Kapitel die Zwischenkriegszeit 1948-1967. Das vierte Kapitel befasst sich mit der Zeit zwischen dem Sechs-Tage-Krieg und dem Ende des "kalten Krieges". Kapitel fünf - mit dem "Jahrzehnt der Hoffnung" 1991-2000, während das letzte Kapitel 17 Jahre Stillstand oder Desillusionierung dokumentiert. Die drei letzten Kapitel sind die längsten, als möchte die Herausgeberin sagen: Je hoffnungsloser das Unternehmen, desto mehr wurden irrelevante, meist gutgemeinte Dokumente produziert, die nichts Konstruktives bewirken konnten.

Einige Dokumente, die im Sammelband erschienen und erläutert wurden, sind zweifellos Schlüsseldokumente, die auf Wendepunkte in der Geschichte der israelisch-palästinensischen Beziehungen hinweisen: Die Balfour-Deklaration 1917, mit der das Buch beginnt, das Mandatsdokument 1922, die UN-Resolution 1947, die UN-Resolution 242 nach dem Sechs-Tage-Krieg, das Camp-David Abkommen 1978, die Osloer Prinzipienvereinbarung zwischen Israel und der PLO 1993. Es fehlt im Band auch nicht an Friedensplänen, die alle faktisch früher oder später ad acta gelegt wurden, obwohl behutsam vorbereitet und formuliert, und immer wieder etwas Hoffnung in den müden Friedensprozess hineinbrachten. Beim Lesen scheint eine scharfe Diskrepanz zwischen Zahl und Länge der Dokumente einerseits und ihrer politischen Relevanz andererseits aufzuklaffen. Die wichtigste Entscheidung ist eigentlich vor dem Krieg von 1948 gefallen - beide, Palästinenser und Israelis, waren auf Konfrontation eingestellt und finden bis heute keinen Ausweg. Der große Durchbruch, der im Osloer Abkommen 1993, nach Ende des kalten Krieges, erzielt wurde, führte spätestens fünf Jahre später zurück in die Sackgasse. Die letzten 300 Seiten der Dokumentation illustrieren entsprechend das Wort Makulatur.

Dieses düstere Urteil wird durch einen Blick auf den zeitlichen Rahmen der Pläne und Vereinbarungen gestärkt - kein Zeitplan wurde eingehalten, meist weil die israelischen Regierungen seit 1967 das "auf die lange Bank schieben" zur Strategie entwickelten. Am deutlichsten kam es bei der Implementierung des Osloer Abkommens (Dok. 62) zum Ausdruck. Gemäß Artikel IV 1 sollte die Übergangsperiode, die mit dem Abzug Israels aus Gaza und Jericho beginnt, bis zur Gründung des Staates Palästina nur fünf Jahre dauern. Die Vereinbarung über den Abzug wurde im Mai 1994 unterzeichnet - Regierungschef Rabin hat es ernst genommen. Doch Netanyahu in seiner ersten Amtszeit als Regierungschef dachte nicht daran. Präsident Clintons Versuch im Wye-River Memorandum 1998 (Dok. 70) die Vereinbarung zu retten und einen detaillierten Zeitplan oktroyieren, sieht im Nachhinein wie ein schlechter Witz aus. Als 1999 die Übergangsperiode zu Ende ging, hat Israel die Verzögerungstaktik fortgesetzt, jetzt unter Ministerpräsident Barak. Die Palästinenser verloren die Geduld, begannen die zweite Intifada, die Israel terrorisierte und zugleich zur Intensivierung der Siedlungspolitik motivierte, was die Bemühungen um den Frieden zunichtemachte.

Nicht nur Israels Umgang mit der Zeitplanung strahlte Zynismus aus. Grausam war die Bestimmung im britischen "Weißen Buch" vom Jahr 1939 (Dok. 8), in dem die Einwanderung von Juden praktisch verboten wurde. Bis zur möglichen Aufhebung des Verbots wurde eine Frist von 5 Jahren gesetzt. Wie bekannt, waren bis Ende 1944 bereits sechs Millionen Juden ermordet.

Die Dokumentation macht auch deutlich, dass der Zionismus für den palästinensischen Nationalismus eine Vorbildfunktion einnahm. Der Text der Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina 1988 (Dok. 54) verrät eine große Ähnlichkeit mit der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel 40 Jahre früher, vor allem was die Beziehung zur Geschichte, zum Lande und zur Katastrophe als Rechtfertigung für die Staatsgründung betrifft.

Über die Auswahl in einer solchen Dokumentation kann man streiten. Vielleicht wäre mehr Beschäftigung mit der Zeit vor 1948 erforderlich, um den "Point of no return" ausfindig zu machen. So z.B. der "Verfassungsvorschlag für Erez Israel", den David Ben Gurion im Jahr 1931 veröffentlichte, indem er nach einer Regelung strebte "dass zu keiner Zeit eine Herrschaft der Araber über die Juden oder [...] der Juden über die Araber entstehen kann" und sich ein "Nationalitätenparlament, an dem sich Araber und Juden in gleicher Anzahl beteiligen" vorstellt. Das Dokument erschien auf Deutsch bereits im November 1933 in einem von der zionistischen Organisation Hehaluz in Berlin herausgegebenen Band "Zum jüdisch-arabischen Problem".

Anderseits wäre es möglich, auf einiges von dem, was in der post-Osloer Zeit niedergeschrieben wurde, zu verzichten. Kein Wunder, dass aus der Zeit zwischen 2008-2016 sich keine Dokumente für den Band anboten, ein Indiz dafür, dass sich der "Prozess" tatsächlich in der immer länger werdenden Regierungszeit Netanyahus im Koma befindet.

Der deutsche Leser wird sich für die Rolle Deutschlands und Europa in diesem Kontext interessieren. Er wird kein Dokument über die Absichten des Dritten Reichs in Palästina finden, dafür aber einige spätere Interventionen, wie die Nahosterklärung 1980 der Europäischen Gemeinschaft, die Berliner Erklärung der Europäischen Union 1999 oder der 7-Punkte Plan von Joschka Fischer 2002. Europa nahm Stellung, blieb aber - inklusive Deutschland - für den Prozess wenig relevant.

Die Dokumentation ist professionell und systematisch aufbereitet, mit Karten, Zeittafel, Literaturauswahl und Glossar. Von der Sache her ist das Kompendium aber eine frustrierende Lektüre.

Rezension über:

Angelika Timm (Hg.): 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917 - 2017) (= Schriftenreihe des diAk; Bd. 42-43), Berlin: AphorismA 2017, 724 S., 20 Kt., ISBN 978-3-86575-063-1, EUR 35,00

Rezension von:
Moshe Zimmermann
The Hebrew University of Jerusalem
Empfohlene Zitierweise:
Moshe Zimmermann: Rezension von: Angelika Timm (Hg.): 100 Dokumente aus 100 Jahren. Teilungspläne, Regelungsoptionen und Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Konflikt (1917 - 2017), Berlin: AphorismA 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15.02.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/02/30644.html


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